Ausgehen in Luxemburg

Auf der Flucht vor Erna

Eurotop IV: Luxemburg ist eine kleine Insel. Dem ständigen Wahlkampf entkommt man selbst in der Stammkneipe nicht.

Ein schon etwas fortgeschrittener Montagabend in Luxemburg: Vor dem »Marx« steht Erna. Die Erna: Frau Hennicot-Schoepges, das Hassobjekt vieler SchülerInnen und Kulturleute in Luxemburg. Dass die Kultusministerin hier so ganz alleine steht, ist ungewöhnlich - eigentlich kaum zu glauben. Ich mache einen mittleren Bogen um die Dame im grauen Kostüm mit obligatorischer Schleifenbluse und gehe am Türsteher vorbei, hinein ins »Marx«.

Das höfliche »Bonsoir« an die Adresse des geölten Monsieur Muscle am Eingang kommt schon ganz flüssig - wer ins »Marx« geht, hat bestimmte Prinzipien über Bord geworfen. Und das haben im kleinen »Letzebuerg« viele. Die letzte linke Szene-Kneipe der Hauptstadt hat sich bereits vor über zehn Jahren in ein edles Trendy-Restaurant verwandelt. Die politisch Korrekten über 30, die weiterhin ab und an »een huele goe« (einen heben gehen) wollen, müssen Kompromisse machen. Und besuchen heutzutage auch jene Konsumstätten, die »früher« gänzlich verpönt waren.

Zum Beispiel das »Marx«. Der Name ist dabei keineswegs Programm. In die angesagte Kneipe im Zentrum der 100 000-Menschen-Stadt Luxemburg kommen neben den unvermeidlichen Bankangestellten und EU-Funktionären auch viele Leute aus dem Grafik-, Design- oder Architektenmilieu. Und natürlich aus der Werbung. Früher galten Turnschuhe als Auschlusskriterium, heute geht es auch bei der Kleiderordnung lässiger zu. Das »Marx« gibt sich als Avantgarde-Absteige, inklusive jonglierender Barkeeperinnen und gutsortierter DJs, die auch unter der Woche dafür sorgen, dass spontane Partys steigen. Offiziell ist der Mann an der Tür nicht zum Rausschmeißen da. Er soll vielmehr die fast täglich drohende Überfüllung des Lokals verhindern.

An diesem Montag ist allerdings wenig los. Am Designer-Tresen sitzt ein eher farbloses Grüppchen. Jean-Paul, Ex-Redakteur der liberalen Wochenzeitung Letzebuerger Land schwadroniert sozialengagiert über die grenzenlosen Chancen des Internet, speziell in den »unterentwickelten« Regionen der globalisierten Online-Welt. Seine Anzüge sind dunkler und eleganter geworden, seitdem er für ein florierendes Kommunikationsunternehmen in der freien Wirtschaft arbeitet.

Allerdings ist das Publikum auch im »Marx« nicht ganz einheitlich. Im 400 000-Einwohner-Staat Luxemburg gibt es einfach zu wenig Menschen, als dass jede Szene eine eigene Kneipe füllen könnte. »In der Liebe bin ich konservativ, da gehört heiraten für mich irgendwie dazu.« Rafael passt mit seinen zerschlissenen Jeans und seinem löcherigen T-Shirt nur bedingt ins Bild und wohnt doch fast im »Marx«. Früher war der Eishockeyspieler Türsteher im »Marx«. Heute konzentriert er sich auf seine Kunst.

»Draußen vor der Tür steht Erna«, gebe ich bekannt. Weil das scheinbar niemanden interessiert, spare ich mir eine Bemerkung wie »Wenn die wirklich reinkommt, dann komme ich definitiv nicht mehr her«. Im »Marx« ist gegenüber solchen Drohungen abgehärtet. Da wird sich auch der Türsteher nicht anders benehmen, wenn plötzlich die Kultusministerin auftaucht. Besonders kurz vor den Wahlen lassen sich Polit-Promis hier gerne sehen. Anscheinend mit Erfolg: Anne Brasseur trank hier Mitte Juni 1999 in munterer Runde ein Gläschen. Eine Woche später war sie Erziehungsministerin der frisch-gewählten Regierung.

Dass sich PolitikerInnen in Luxemburg gerne unters Volk mischen, liegt an dem besonderen Wahlsystem: In dem Land, in dem es zwar keine Wehr-, dafür aber eine Wahlpflicht gibt, ist nämlich das »Panaschieren« erlaubt. Wer will, kann seine mehr als 20 Kreuze quer durch die Parteienlandschaft verteilen. Von diesem Recht machen LuxemburgerInnen ausgiebig Gebrauch. Und vergeben so manche Stimme an besonders »sympathische« Politgrößen, auch wenn diese dem feindlichen Lager angehören. Popularität ist alles: Der einzige Olympiasieger der Luxemburger Geschichte wurde später Sportminister.

Für die Parteien gilt es, Präsenz zu zeigen - ob bei Dorffesten, Vernissagen, Sonntagsmessen oder in Kneipen wie dem »Marx«. Diese Disziplin beherrscht die Demokratesch Partei besonders gut. Der persönliche Kontakt mit der Klientel hat die Liberalen auch beim »kleinen Mann von der Straße« wählbar gemacht. Seit Sommer 1999 ist die DP wieder zweitstärkste Partei im Ländchen und nach 15 Jahren auch wieder an der Regierung beteiligt. Daran ist auch die dicke Wohlstandsdecke im Großherzogtum schuld. Immerhin hat Luxemburg eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen und mit 2,2 Prozent eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten der Welt.

Dann passiert es: Erna Hennicot-Schoepges betritt das »Marx« und nimmt ungeniert Platz am Tresen. Die preisgekrönte Pianistin setzt sich heute Abend jugendlichem Technosound aus. Sie ist ohne Bodyguards unterwegs - die gibt es in Luxemburg nicht einmal für den Premierminister. Lediglich ein paar junge Journalisten mit Ambitionen und der richtigen Parteikarte scharen sich um sie. Ihnen steht eine Mischung aus Stolz und Peinlichkeit in die Gesichter geschrieben.

Der Rest des Kneipenvolkes tut so, als ob nichts wäre. Das können die Luxemburger gut. Im Kleinstaat fällt so leicht keiner aus der Rolle, denn anonym zu bleiben, ist so gut wie unmöglich. Ob im »Marx« oder sonstwo, in Luxemburg ist es ausgeschlossen, jemanden kennenzulernen, ohne spätestens nach einer halben Stunde festzustellen, dass man mehr als einen gemeinsamen Bekannten oder sogar Verwandten hat. »Typesch Letzebuerg«, heißt es dann.

Dabei sind LuxemburgerInnen im »Marx« und anderen Lokalen längst nicht immer in der Mehrzahl. Neben dem einheimischen Letzebuergesch - eine Art moselfränkischer Dialekt - ist vor allem Französisch und Englisch zu hören. Solchen kultivierten Einflüssen von außen ist man durchaus wohlgesinnt. Alles Deutsche weisen die Luxemburger dagegen weit von sich. Jedoch nicht sehr konsequent: Deutsche Autos inklusive samstäglicher Waschpflicht sind so beliebt wie Thomas Gottschalk oder die tägliche Bild-Zeitung.

»Typesch letzebuergesch« hieß auch vor zwei Jahren die Kampagne der Regierung gegen Rassismus. Auf den Plakaten waren Kinder aller Hautfarben in harmonischer Runde zu sehen. Der Kleinstaat Luxemburg wird gerne als Musterbeispiel in Sachen Multikulti genannt. Bei einem Ausländeranteil von fast einem Drittel wird fast jedes Ereignis automatisch zum Multi-Kulti-Event.

Auch in Luxemburg funktioniert Multi-Kulti nach nationalen Regeln: Von den rund 50 000 Portugiesen und Italienern, die seit dem Gastarbeiterboom in den Sechzigern im Großherzogtum leben, lässt sich in Kneipen wie dem »Marx« nur selten jemand blicken. Die Baubranche hat ihre eigene Lokalszene. Die Nicht-Luxemburger, die sich in den Innenstadt-Kneipen tummeln, stehen eher bei einer der 208 Banken in der Stadt unter Vertrag.

Seit das Finanzgeschäft im luxemburgischen Steuerparadies blüht, wurde das städtische Nachtleben um so manches Lokal bereichert. Gleich beim »Marx« um die Ecke hat vor kurzem der »Cats-Club« eröffnet: eine Spur exklusiver. Wen der Hunger plagt, kann im angeliederten Restaurant auf gemütlichen Sitzkissen Sushi essen. Doch auch der »Cats-Club« ist kein Geheimtipp mehr: Im etwas konventionelleren Tisch-und-Stuhl-Bereich sitzt schon wieder Erna. An ihrer Seite Premierminister Jean-Claude Juncker und andere Vertreter der fortschrittlichen christlich-sozialen Szene. Es scheint sinnlos, auf der ohnehin schon sehr kurzen Liste einen weiteren abendlichen Vergnügungsort zu streichen.

In der Eurotop-Serie berichten wir in loser Folge aus europäischen Städten. Bisher erschienen: Istanbul (Jungle World, 28/00), Wien (30/00) und Kraków (32/00)