Deutscher Nationaldiskurs im 18. Jahrhundert

Ein Vaterland dichten

Korrekturen am Bild der Aufklärergesellschaft: Hans-Martin Blitz beschreibt, wie sich der nationale Diskurs im 18. Jahrhundert entfaltete.

Immer noch existiert in der Geschichtswissenschaft der Mythos des guten, aufgeklärten und emanzipatorischen Patriotismus. Was die deutsche Geschichte betrifft, wird er zumeist für die Zeit vor 1848 reklamiert. Ein aggressiver Nationalismus habe sich hier erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Obwohl diese These inzwischen vor allem von Mediävisten und Frühneuzeit-Historikern mit einem Fragezeichen versehen wurde, hat sich die Forschung bisher nicht bemüht, dieses Bild zu korrigieren.

Hans-Martin Blitz räumt nun in seiner literaturwissenschaftlichen Studie zum deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert mit diesem Mythos gründlich auf. Es gelingt ihm, schlüssig nachzuweisen, dass die aggressiven Elemente, die den deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert prägten, bereits vor der französischen Revolution im intellektuellen Diskurs entwickelt wurden.

Blitz rekonstruiert, wie auf der Grundlage eines sich seit dem 16. Jahrhunderts wandelnden Begriffs der Nation bereits im Humanismus und im Barock, vor allem aber seit der Frühaufklärung im beginnenden 18. Jahrhundert ein nationaler literarischer Diskurs entsteht. Hier sind es vor allem die Hermannsdichtungen Justus Mösers, Johann Elias Schlegels und Christoph Otto von Schönaichs, die traditionsstiftend wirken. In ihnen werden bereits zentrale Elemente der nationalistischen Ideologie formuliert: die Feindabgrenzung als identitätsstiftendes Moment, die Stilisierung von Krieg und Gewalt als Befreiungs-, Beherrschungs- oder gar Vernichtungsakt, die innere Formierung der vaterländischen Gemeinschaft und die Propagierung einer rückwärtsgewandten Utopie.

Im Siebenjährigen Krieg erfährt dieser Diskurs dann eine weitere Politisierung und Radikalisierung. Während die Geschichts- und Literaturwissenschaft weiterhin am Bild der kosmopolitischen Aufklärergesellschaft festhält, zeigt Blitz anhand unterschiedlicher literarischer Quellen, dass sich hier eine deutliche Steigerung der Aggressivität und der Vernichtungsphantasien vollzieht. Neben den eigentlichen Dichtungen, etwa den »Philotas»-Dramen Ewald von Kleists, Lessings und Gleims, werden dafür auch politische Flugschriften, protestantische Predigten und private Briefe der Autoren herangezogen.

Gingen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die Vorstellungen darüber, was unter dem Begriff »Vaterland« oder »Nation« konkret zu verstehen sei, noch weit auseinander, so brachte die so genannte »Nationalgeist-Debatte« des Jahres 1765 eine starke Vereinheitlichung dieser Ideen und ihre Ablösung von den Zwecken der einzelstaatlichen Kriegspropaganda. Die Debatte um Friedrich Karl von Mosers Streitschrift »Von dem Deutschen National-Geist« endete mit der Übereinkunft, dass die Nation nicht an den Höfen, sondern beim »Volk« zu finden sei und eröffnete nun endgültig den Weg zu einem bürgerlichen Nationalismus. Einen weiteren Schritt in diese Richtung vollzog die nationalistische Dichtung des Sturm und Drang. Entgegen den sturen Behauptungen der Literaturwissenschaft stellt Blitz fest, dass die Rede vom »Deutschen« bei Herder, Klopstock und den Dichtern des »Göttinger Hain« weniger der Ausdruck einer kulturellen Emanzipationsbewegung war, als eines aggressiven und mittlerweile dezidiert politischen Nationalismus.

Blitz beschreibt diesen Prozess als eine »Verbürgerlichung« des Nationalismus. Damit ist nicht nur gemeint, dass sich die nationalen Schriftsteller als Elite einer neuen Klasse verstehen und dass die Produktion nationaler Mythen den Konjunkturen von Angebot und Nachfrage auf dem literarischen Markt folgt. Vielmehr entwickelt sich auch das »Vaterland« selbst zu einem genuin bürgerlichen Begriff. An die Stelle von territorialen und dynastischen Loyalitäten treten abstrakte Vorstellungen einer Gemeinschaft, die durch kulturelle Normen zusammengehalten wird. Das verbindende Moment dieser Vorstellungen ist der Appell an den »Gemeinsinn«, an die Bereitschaft zur Aufopferung für das allgemeine Wohl. Und hierin liegt auch eine der zentralen Erkenntnisse der Untersuchung.

Der in der Forschung vielfach betonte emanzipatorische Gehalt der Vaterlandsdichtung liegt eben nicht in Forderungen nach revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft, nicht einmal in Forderungen nach politischen Herrschaftsbeschränkungen. Die durchaus vorhandene Kritik am Despotismus konzentriert sich vielmehr auf moralische Appelle an den Gemeinsinn. Damit ist eine entscheidende Einsicht in den Charakter der bürgerlichen »Revolution« in Deutschland formuliert: »Das Idealbild des durch Gesetzesherrschaft befriedeten Gemeinwesens wertete die Stellung des bürgerlichen Individuums innerhalb überkommener Herrschaftsverhältnisse auf; gleichzeitig sorgten aber Konstruktionen eines machtvollen, bergenden Kollektivs dafür, daß der Gewinn an Autonomie weit geringer ausfiel als angenommen.«

Hier entfaltet sich bereits der Prototyp des späteren Staatsbürgers: Für einen Gewinn an Freiheit gegenüber den alten feudalen und ständischen Bindungen wird die Unterwerfung unter eine neue, nationale Autorität in Kauf genommen. Im 18. Jahrhundert gibt es noch keinen nationalen Staat, der diese Autorität unangefochten repräsentieren könnte. Entsprechend wird die Nation nicht politisch, sondern kulturell definiert, das Ergebnis ist der eigentümliche deutsche Begriff des »Volkes«. Allerdings beinhaltet diese Konstruktion schon die Bereitschaft, sich einem noch zu schaffenden Nationalstaat zu unterwerfen. Die deutsche Geschichte nach 1848 zeigt genau diese Entwicklung. Die Verbürgerlichung der Nation erfolgt um den Preis der Nationalisierung des Bürgertums.

Blitz legt großen Wert auf die Feststellung, dass es sich hier tatsächlich um eine Emanzipationsbewegung des Bürgertums handelt und dass die nationale Dichtung des 18. Jahrhunderts durchaus ein emanzipatorisches Konzept beinhaltet. Allerdings ist dieser emanzipatorische Gehalt weniger bedeutend als gemeinhin angenommen, und er ist vor allem nicht von den nationalistischen, autoritativen und fremdenfeindlichen Inhalten zu trennen. Blitz spricht hier von den »Ambivalenzen« des frühen Vaterlandsdiskurses. Darin drückt sich für ihn eine prinzipielle »Offenheit« aus: »Der Vaterlandsdiskurs stellte bürgerliche Emanzipationshoffnungen neben aggressive Abgrenzungsbedürfnisse und Imaginationen einer egalitären Einheit neben diejenigen einer siegreichen Kriegergemeinschaft.«

Ist das Verhältnis von Emanzipation und Nationalismus aber tatsächlich mit den Begriffen von »Offenheit« und »Nebeneinander« zu fassen? Spricht nicht vielmehr aus den von Blitz präsentierten Quellen die Notwendigkeit einer Verbindung? Unter den Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft - das zeigen auch alle anderen sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts - bedeutet Emanzipation zugleich eine Integration ins nationale Kollektiv. Zu zeigen, wie diese beiden Tendenzen zusammenwirken, wäre Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie. Dafür genügt aber nicht die von Blitz postulierte Wendung zum »ambivalenten Sowohl-Als-auch«. Vielmehr müsste das Verhältnis in den Begriffen der Dialektik gefasst werden.

Blitz' Studie bietet eine Fülle von Materialien für eine solche Dialektik der Aufklärung. Analytisch verbleibt er aber in den Kategorien von Benedict Andersons Archäologie des Nationalismus. Damit entgeht ihm, dass der »Nation« der bürgerlichen Revolutionen die sowohl historische wie auch völkische Substanzialisierung bereits eingeschrieben ist. Umgekehrt aber weist eine solche Sichtweise jede materialistische Theorie unerbittlich darauf hin, dass Nationen, wenngleich gesellschaftlich hergestellt, immer nur »imagined communities« sind.

Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland - Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2000, 437 S., DM 58