Ikone Marion Jones

Weiblich, arrogant, schwarz

Sydney 2000, Teil II: Marion Jones hat alle Chancen, zu einer Sport-Ikone des neuen Jahrzehnts zu werden.

Marion Jones ist nicht irgendeine US-Leichtathletin - sie ist die Leichtathletin der letzten Jahre. In den USA ist sie bekannter als Astrid Kumbernuss in Neubrandenburg, was schon etwas zu bedeuten hat. Und Marion Jones hat sich vorgenommen, bei den Olympischen Spielen in Sydney fünf Goldmedaillen zu gewinnen.

Wenn ihr das gelingt, wird sie eine Heldin werden. »Dann wird sie die erste Frau sein, die über ihren Sport hinauswächst, so wie es vor ihr nur Muhammad Ali, Pele und Michael Jordan taten«, meint Craig Masback, Chef des US-Leichtathletikverbandes.

Für dieses große Projekt ist bereits alles vorbereitet worden. Der Weltleichtathletik-Verband handelte mit den Olympia-Organisatoren einen Zeitplan aus, der den großen Stars der Szene zusätzliche Ruhetage gewährt, damit sie mehr Medaillen gewinnen können. Marion Jones tritt schließlich in der Zeit vom 22. September bis zum 1. Oktober über die 100- und 200-Meter-Kurzstrecke sowie im Weitsprung an. Außerdem wird sie in der Vier-mal-100- und der Vier-mal-400-Meter-Staffel laufen.

Auch der amerikanische Fernsehkonzern NBC, der die Rechte an den Olympischen Spielen besitzt, ist vorbereitet: »Wenn sie ihre ersten beiden Wettkämpfe gewinnt - und das sollte sie schon -, dann ist es einfach zu prognostizieren, dass ihre Wettkämpfe eine bezaubernde Mini-Serie werden, mit einer neuen Story an jedem Tag«, sagt Dick Ebersol, der Chef von NBC-Sports. Die Sportbegeisterten - in den USA wie überall auf der Welt mehrheitlich Männer - werden die Olympischen Spiele ohnehin anschauen.

Aber mit der Heldin Marion Jones, das hat man sich bei NBC schon ausgerechnet, werden auch die Zuschauerinnen fürs NBC-Olympiaprogramm begeistert, die Quoten sollen deutlich steigen. Eine Chance auch für die Frauenleichtathletik, die im Grunde nur alle vier Jahre, bei den Olympischen Sommerspielen, mit der der Männer auf einer Stufe steht.

Marion Jones sieht dieses Problem nicht. Sie ist vorbereitet auf ihren großen Auftritt in Sydney. Sie weiß, dass sie gut ist. »Seit ich mich erinnern kann, war es meine Bestimmung, etwas Großes zu tun, egal, was ich anfing.« Nur wer sie mag, findet das nicht arrogant. Im Alter von elf Jahren beschloss die heute 24jährige - so berichtet sie selbst, so bestätigen es ihre Mutter und ihr Halbbruder -, Olympiasiegerin zu werden. Das Kind aus einer schwarzen Middle-Class-Gegend in Southern California begann zunächst mit Leichtathletik und Basketball.

1992 qualifizierte sich die 16jährige als Ersatzläuferin für die olympische Vier-mal-100-Meter-Staffel, aber sie sagte ab, denn sie wollte nur dort dabei sein, wo sie ein Star ist. Das nicht arrogant zu finden, fällt schon schwerer.

Marion Jones spezialisierte sich stattdessen auf Basketball und führte das Team der University of North Carolina 1994 zum College-Titel. Ihre Leichtathletikergebnisse wurden in dieser Zeit nicht besser. 1996, während der Olympischen Spiele in Atlanta, musste sie zu Hause bleiben, denn sie hatte sich den Fuß gebrochen. Jones beendete ihre Basketballkarriere und teilte ihrem Teamcoach mit, dass sie nun gedenke, die schnellste Frau der Welt zu werden. Auch dieser Anspruch wäre arrogant, wenn sie ihn nicht wenige Monate später schon verwirklicht hätte. 1997 wurde sie Weltmeisterin.

Dieses schnelle und entschlossene Emporkommen ist es, was Jones für viele Menschen faszinierend macht. Und es ist gleichzeitig auch das, was einige abstößt. »Sie ist kalt, distanziert und selbstgefällig«, sagt die französische Sprinterin Christine Arron. Das Printmagazin des Fernsehsenders ESPN präsentierte Marion Jones, sehr streng, mit Lackstiefeln auf dem Titelbild. »Ich treibe nicht Sport, um mit Anstand zu verlieren«, sagte sie der New York Times.

Die Vorgängerinnen im leichtathletischen Sprint, die Heldinnen wurden, hatten andere Lebenswege und konnten aus anderen Gründen in den USA populär werden. Wilma Rudolph, die 1960 in Rom dreimal Olympia-Gold holte, überwand ihre Kinderlähmung, Gail Devers, die Siegerin von Barcelona 1992 und Atlanta 1996, litt zuvor an einer schwere Schilddrüsenkrankheit. Und Jackie Joyner-Kersee, die Siebenkämpferin und Weitspringerin, musste den Slums von St. Louis entfliehen, um olympisches Gold zu gewinnen.

Nun will sich also Marion Jones in diese Reihe stellen. Eine Frau, die noch eine Zahnspange trägt. Eine Frau, von der ihre Mutter sagt, sie lebe »in einer Kleinmädchenwelt, allein mit ihrem Publikum und ihrer Berühmtheit«. Marion Jones ist, wenn es so etwas gibt, eine Postfeministin: Eine Frau, die auf den erfolgreichen Kämpfen anderer aufbauen kann und sich dabei selbst als unpolitisch versteht.

Wenn man sich gleichzeitig Michael Jordan ansieht, den schwarzen Basketballer, der im Gefolge des Civil Rights Movements unpolitisch und arrogant ohne Steigerungsmöglichkeit ein neues schwarzes Selbstbewusstsein repräsentiert und propagiert - dann ist Jones' Erfolg wohl auch ein Resultat dieses Phänomens. Also, wäre zu schließen, ist Marion Jones ein neuer Typus: weiblich, arrgogant, schwarz, erfolgreich. In dieser Kombination gibt es das noch nicht allzu oft.

»Wenn das Schicksal ihr zulächelt«, schreibt die New York Times, »dann hoffen viele Menschen, dass sie für den Frauensport so viel erreichen wird wie Michael Jordan für den Basketball. Sie hoffen, dass, entweder durch geschicktes Marketing oder durch ihre Ausstrahlung, Marion Jones zu einem kollektiven Traumbild wird. Wenn ein 14jähriger Junge davon träumt, ein großer Athlet zu werden, soll ihm die Vision einer Marion Jones in seinen Träumen begegnen.«

Weniger drastisch, aber immer noch hinreichend pathetisch drückt es Donna Lopiano aus, Direktorin der Women's Sport Foundation: »Marion hat sich zu entscheiden, ob sie Tiger Woods werden will. Kann sie Tiger Woods schlagen? Ja, sie kann. Wird die amerikanische Öffentlichkeit eine weibliche Sport-Ikone mit dieser Bedeutung annehmen? Ja, definitiv. Will Marion das? Ich weiß es nicht, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es selbst weiß. Vielleicht ist es unfair, all das auf ihre Schultern zu laden.«

Marion Jones macht nicht den Eindruck, dass sie nicht wisse, was mit ihr geschieht, und schon gar nicht, dass sie das vielleicht nicht wollte. Mit kaum gezügeltem Willen hat sie ihre Sportkarriere eingeschlagen. Seit März 1997 bestritt sie 59 Finales in 100- und 200-Meter-Läufen. Nur viermal hat sie dabei nicht gewonnen: einmal wegen Verletzung, einmal wegen Disqualifikation nach Fehlstart und zweimal wurde sie Zweite.

Es gibt nur eine Frau in der Geschichte, die schneller war als Marion Jones: die vor zwei Jahren verstorbene Florence Griffith-Joyner, Olympiasiegerin von 1988. Keine lebende Frau läuft oder lief schneller als Marion Jones.

»Es ist gar nicht mein Ziel, den Weltrekord zu brechen«, erzählt Jones, als baue sie schon mal dem Erwartungsdruck vor. »Mein Ziel ist es, fünf Goldmedaillen zu gewinnen. Natürlich muss ich dafür auch schnell laufen, aber das ist nicht das Problem. Ich weiß schließlich, wie man schnell läuft.«

Fünf Goldmedaillen bei der Olympiade, so sind ihre Worte wohl zu verstehen, sind für Marion Jones ein realistisches Ziel. Ein Weltrekord ist dagegen in diesem Jahr noch nicht realistisch. »Ich sage ja nicht, dass ich fünf Goldmedaillen gewinnen kann, weil das vor mir noch niemand in der Leichtathletik geschafft hat. Ich sage es, weil es mir gelingen wird. Würde ich glauben, ich schaffte sechs Goldmedaillen, würde ich halt das ankündigen.«

Einmal scheiterte ein solches Projekt. Bei den Weltmeisterschaften 1999 in Sevilla gewann sie nur den 100-Meter-Sprint, wurde Dritte beim Weitsprung, verpasste wegen Verletzung das 200-Meter-Finale und brach den Wettkampf schließlich ab. Als ein Journalist sie nun darauf ansprach, ließ sie ihn die Frage gar nicht erst zu Ende formulieren. »Ehrlich, ich habe kein bisschen Zweifel, dass ich das nicht schaffen könnte.«

Fünf Goldmedaillen in Sydney gewinnen, um dann eine Heldin für den Rest des Lebens zu sein. Irgendwo im Bereich von Muhammad Ali, Pele oder Michael Jordan. So in etwa sieht der nicht unrealistische Plan von Marion Jones für diesen Sommer aus.