Auseinandersetzung um »Estonia«

Im Strudel der Fakten

Ein deutsch-amerikanisches Taucher-Team will das Rätsel um die »Estonia« lösen - sehr zum Ärger der schwedischen Regierung.

Das ist sinnlos - und stört den Grabfrieden!« befand Schwedens stellvertretende Wirtschaftsministerin Mona Sahlin am vergangenen Freitag, als ein deutsch-amerikanisches Team seinen ersten Tauchgang zur vor sechs Jahren gesunkenen »Estonia« begann.

Vorausgegangen waren zahlreiche Bemühungen der schwedischen Regierung, das Unternehmen zu verhindern. In Schweden, Finnland und Estland ist das Wrack mit vermutlich 757 Opfern an Bord per Gesetz zur Grabstätte erklärt worden. Bürgern dieser Länder ist es daher verboten, zur »Estonia« zu tauchen. Obwohl das Schiff in internationalen Gewässern versank, wird der Ort der Havarie von der schwedischen Küstenwache ständig beobachtet.

Auch nachdem der US-amerikanische Millionär Greg Bemis im Sommer dieses Jahres ankündigte, eine Expedition hinunter zum Wrack schicken zu wollen, erklärte die schwedische Regierung umgehend, sie werde eine »Störung der Grabruhe« niemals zulassen. Sie übersah dabei allerdings, dass die USA dem Abkommen, das es den Unterzeichner-Staaten erlaubte, gesunkene Schiffe zu Grabstätten zu erklären, nie beigetreten sind.

Alle Versuche Schwedens, die USA zu bewegen, ihrem Bürger Bemis das Tauchen zu verbieten, scheiterten. Und so musste die Regierung zusehen, wie Mitte letzter Woche die US-amerikanische »One Eagle« und der deutsche Schlepper »Bülk« mit neun Spezialtauchern und Roboterkameras an Bord zur Unglücksstelle schipperten.

Die Meinung der Hinterbliebenen zu dieser Operation ist geteilt, manche möchten, dass das Schiff in Ruhe gelassen wird, andere erhoffen sich von den Tauchern weitere Hinweise auf die tatsächliche Unglücksursache. Die offizielle Erklärung, die Bugklappe habe sich nicht schließen lassen und daher habe bei dem hohen Wellengang, der zum Unglückszeitpunkt herrschte, Wasser eindringen können, wird von vielen Experten nicht geteilt. Überlebende wollen gehört haben, dass die Besatzung mitten in der Nacht damit begann, Lkw hin und her zu rangieren, andere glauben einen explosionsähnlichen Knall gehört zu haben.

Auf diese und ähnliche Beobachtungen stützen sich diejenigen, die vermuten, auf der »Estonia« sei radioaktives Material geschmuggelt worden. Entweder sei die Mannschaft vor einer drohenden Untersuchung beim Zoll gewarnt worden und habe versucht, einen Container ins offene Meer zu werfen oder die Russen-Mafia habe, aus welchen Gründen auch immer, eine Sprengladung an der Bugklappe angebracht.

Die schleppenden Untersuchungen offizieller Stellen und die öffentlich ausgetragenen Zwistigkeiten in der vor vier Jahren aus Esten, Schweden und Finnen zusammengesetzten »Estonia-Kommission« machen es zudem leicht, an eine Verschwörung zu glauben. Die deutsche Meyer-Werft, der im offiziellen Untersuchungsbericht die Alleinschuld an dem Untergang gegeben wurde, bestritt zudem einen Konstruktionsfehler an der Bugklappe und setzte eigene Experten ein. Werner Hummel, der Leiter der Meyer-Untersuchungen, stützte die These vom Bombenanschlag. Auf Video-Aufnahmen seien deutlich zwei Sprenglöcher in der Bugklappe des 13 Jahre alten Schiffs zu sehen, erklärte er und berichtete weiter, Nachforschungen hätten ergeben, dass eine gestohlene Waffenlieferung an Bord gewesen sei. Um diese Theorie zu bestätigen, hätte man jedoch zur »Estonia« hinuntertauchen und neue Bilder machen müssen.

Dass daraufhin das Wrack zum geschützten Grabplatz erklärt wurde, war nicht besonders geeignet, Zweifel an der offiziellen Erklärung zu zerstreuen, zudem schwedische Untersuchungskommissionen sich bereits bei der Aufklärung des Mordes an Olov Palme als sehr geübt im Verschleiern gezeigt haben. Im Falle der »Estonia« berichteten auch die Hinterbliebenen von vielen Ungereimtheiten.

Unmittelbar nachdem die Nachricht vom Untergang der »Estonia« gekommen sei, habe bei ihr ununterbrochen das Telefon geklingelt, erklärte beispielsweise die Frau des estnischen Kapitäns Arvo Andresson vor zwei Jahren gegenüber Spiegel-TV. Zahlreiche Bekannte hätten ihren Mann zweifelsfrei erkannt, als Bilder von Überlebenden im Fernsehen gezeigt wurden. Auch sie habe ihn schließlich gesehen, und überdies sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr Mann ausdrücklich auf der Liste der geretteten Personen stehe und in einem schwedischen Krankenhaus behandelt werde. Tage später jedoch galt ihr Mann als verschollen. Alle Versuche, an das Filmmaterial zu kommen, scheiterten, die Aufnahmen seien gelöscht worden, habe es bei den Fernsehanstalten geheißen.

Nun hofft man, mit Hilfe neuer Video-Aufnahmen mehr Klarheit zu erhalten; die deutsche TV-Journalistin Jutta Rabe, die schon mehrere Filme über den Untergang der »Estonia« gedreht hat, ist mit an Bord. Rabe glaubt an eine Verstrickung der russischen Mafia und einen möglichen Anschlag, was sie schwedischen Offiziellen eher suspekt macht. Die Unterwasser-Aufnahmen werde sie für einen geplanten Kinofilm und eine Dokumentation über die »Estonia« verwenden.

Nun, da man in Schweden nichts mehr an den vom schwedischen Küstenwacht-Boot HBV 005 Härnosand misstrauisch verfolgten Tauchgängen ändern kann, verlegt man sich darauf, die ganze Aktion als unseriös und schlecht geplant zu kritisieren. Vielleicht auch, um mögliche neue Beweise sogleich als zweifelhaft bezeichnen zu können.

»Das freie Tauchen auf 60, 80 Metern Tiefe ist eine sehr zweifelhafte Methode, ein 150 Meter langes Wrack abzusuchen. Das ist, als wolle man ein Fußballfeld bei einer Sicht von 15, 20 Metern absuchen«, erklärte beispielsweise Bo Persson, Leiter der Tauchsektion beim marinetechnischen Kommandostab in Berga gegenüber dem Svenska Dagbladet. Mit »unverantwortlich schlechter Ausrüstung« bringe man die Taucher zudem in Lebensgefahr. Gleichzeitig sprach Persson den wohl eigentlichen Grund für seine Kritik an: »Wenn schwedische Taucher das versuchen würden, dann würden wir das auf jeden Fall verhindern.«