Autonomie auf Abruf

In Frankreich fürchten Ex-Innenminister Chevènement und die bürgerliche Rechte um den Erhalt des Zentralstaats. Die Separatisten auf Korsika erhoffen sich wirtschaftliche Vorteile voneiner künftigen Freihandelszone.

Ein Mann, ein Wort. Jean-Pierre Chevènement ist bekannt dafür, dass er zu dem steht, was er verspricht. »Ein Minister hält das Maul, oder er tritt zurück«, polemisierte er schon 1991 gegen kompromissbereite Kollegen und schmiss seinen Ministerposten aus Protest gegen den Golf-Krieg hin. Und auch aus der französischen Korsika-Politik zog Chevènement vorige Woche die Konsequenz, mit der nach dem wochenlangen Streit zwischen ihm und Premierminister Jospin zu rechnen war. Der Rücktritt vom Amt des Innenministers war bereits der dritte in seiner Karriere.

Doch während es Chevènement zu Beginn der neunziger Jahre noch um Krieg und Frieden gegangen war, galt sein Dissens diesesmal den administrativen Änderungen auf der Insel im Mittelmeer. Das Abkommen, das Lionel Jospin Ende Juli mit den korsischen Repräsentanten geschlossen hatte, könne er politisch nicht mittragen, begründete der Innenminister seinen Rücktritt. Das Autonomiestatut räumt Korsika erheblich erweiterte Selbstverwaltungsrechte ein. (Jungle World, 35/00)

Unterstützt in seiner Ablehnung der Autonomie-Forderungen wird Chevènement, der Chef des linkspatriotischen Mouvement des Citoyens (Bewegung der Staatsbürger) ist, auch von Teilen des konservativen Lagers. Insbesondere die so genannten Souveränisten (les souverainistes) - eine EU-skeptische Strömung innerhalb der bürgerlichen Rechten - sind als Verfechter der uneingeschränkten nationalen Souveränität Frankreichs gegenüber den Regionalisten im eigenen Land - aber auch gegenüber der EU und den USA. Ihr wichtigster Vertreter ist der Alt-Gaullist und Ex-Innenminister Charles Pasqua, der bei den Europawahlen 1999 erfolgreich an der Seite des rechtsradikalen Grafen Philippe de Villiers antrat.

Die Anhänger von Chevènement und Pasqua werfen Jospin vor, mit seiner Haltung gegenüber den korsischen Separatisten die Prinzipien der Französischen Republik zu verraten. Mit der Hinnahme des weitreichenden Autonomiestatuts und der Korsika in Aussicht gestellten Steuer- und Finanzhoheit vollziehe der Premierminister den Bruch mit dem republikanischen Gründungskonsens der Grande Nation.

Angesichts von Jospins Korsika-Politik empören sich schon seit Wochen in allen Parteien die Verteidiger des französischen Staatsverbandes. Den aktuellen Abspaltungs- und Autonomie-Forderungen der regionalen Minderheiten dürfe man nicht nachgeben, fordern sie, bedeuteten die separatistischen Ansprüche der Basken, Elsässer und Korsen doch einen Rückfall in die Zeit des Ancien Régime vor der Französischen Revolution.

Die bürgerliche Rechte sieht im Einknicken Jospins vor den Forderungen der Separatisten die Aufhebung der 1789 festgeschriebenen universalistischen Gleichheit der Staatsbürger bedroht; Jospins Politik fordere eine ethnische »Balkanisierung« geradezu heraus, kritisiert auch Chevenèment. Nahrung erhält diese Befürchtung durch das Verhalten bestimmter Strömungen innerhalb der Regionalisten, die in der Tat eine Art ethnischen Partikularismus vertreten. Er macht jedoch selten den ideologischen Gesamtcharakter der regional sehr verschiedenen Bewegungen aus.

Die Zentralregierungen in Paris haben über die Jahrzehnte einen relativ pragmatischen Umgang mit den Forderungen der Separatisten entwickelt. So sind in den letzten 20 Jahren sowohl die rechten wie die linken Koalitionen zu dem Schluss gelangt, dass die Separatisten ohne Zugeständnisse aus Paris ihren bewaffneten Kampf um ein freies Korsika nicht einstellen würden. Mit den Dezentralisierungs-Gesetzen von 1982 und dem Joxe-Statut 1991 räumten die Sozialisten - damals noch unter Fran ç ois Mitterrand - der Insel bereits früh eigene Kompetenzen ein. Mitte der neunziger Jahre dann war es die gaullistische Rechte, die als erste direkt auf die bewaffneten Nationalisten zuging. Dafür unterstützten die Separatisten Jacques Chirac bei den Präsidentschaftswahlen 1995. Der gaullistische Parteichef erhielt über 60 Prozent der korsischen Stimmen.

Doch nach dem Mord am Präfekten Korsikas, Claude Erignac, leitete die Juppé-Regierung im Februar 1998 einen politischen Schwenk gegenüber den Separatisten ein - und setzte verstärkt auf Repression. Der Anschlag brachte neben den sezessionistischen Kämpfern auch den Großteil der Inselbevölkerung gegen die Pariser Verwalter auf.

Stärker noch als sein ermordeter Vorgänger Erignac setzte Bernard Bonnet seit seiner Einsetzung als Präfekt im Frühjahr letzten Jahres darauf, Korsika mit radikalen Mitteln zu »normalisieren« - und die Gesetze des Zentralstaats in Paris durchzusetzen. Dabei schoss er auch schon mal übers Ziel hinaus: Nachdem der Präfekt ein illegal errichtetes Gebäude im April 1999 kurzerhand abfackeln ließ, steckten ihn die französischen Behörden in Untersuchungshaft. Schon zuvor hatte »Supermann« Bonnet die Einwohner mit autoritären Methoden gegen sich aufgebracht. Das kam den radikalen Eigenstaatlern zugute: Bei den Regionalwahlen im Frühjahr 1999 erzielten die Nationalisten 23,4 Prozent der Stimmen und damit den größten Erfolg ihrer Geschichte.

Nach dem Scheitern seiner konservativen Vorgänger, die zwischen 1995 und 1997 geheime Abkommen mit den Bewaffneten anstrebten, suchte Jospin die offenen Verhandlungen mit dem politischen Flügel der korsischen Nationalisten, insbesondere mit der stärksten Fraktion im Regionalparlament von Ajaccio, Corsica nazione.

Im Zuge der Affaire Bonnet sind diese eine Allianz mit dem rechten selbst ernannten Erneuerer José Rossi (Démocracie libérale) eingegangen, dem regionalen Bündnis gehören außerdem die korsischen Parteigänger des - in Korsika geborenen - Souveränisten Charles Pasqua an. Ein Umstand, der auf den Opportunismus Pasquas, der patriotische Rhetorik gegen das Abkommen vom 28. Juli in Anschlag bringt, hinweist.

Vor allem die Aussicht auf wirtschaftliche Vorteile in einer eigenen Freihandelszone eint die korsischen »Erneuerer«. Mit den Einnahmen aus der so genannten Revolutionssteuer und den in mafiösen Geschäften erzielten Profiten wollen die Nationalisten den Investitionen in Korsika neuen Anschub geben. Das viele Geld, das sie sich von Jospins Angebot versprechen, lockte so sehr, dass die Nationalisten sogar ihren Verzicht auf die staatliche Unabhängigkeit erklärten.

Doch die Furcht, um Subventionen aus dem Strukturhilfefonds der Europäischen Union gebracht zu werden, ließ einige der Nationalisten vom Eingehen auf das Jospin-Angebot abraten. Statt sich zu eng an Paris zu binden, rieten sie, sollten eher die Beziehungen zur EU verbessert werden - um so von Brüssel Unterstützung bei der wirtschaftlichen Liberalisierung der Insel zu erhalten. Kein Zufall ist es, dass Jean-Guy Talamoni, der Fraktionschef der Nationalisten im Regionalparlament in Ajaccio, außerdem Vorsitzender des Ausschusses für europäische Angelegenheiten ist, ein Job, der ihn schon zwangsläufig öfter nach Brüssel und Strasbourg führt.

Dass dadurch die engen Verbindungen zwischen der Insel und Paris ernsthaft erschüttert würden, glaubt in Frankreich niemand. Unwahrscheinlich ist auch, dass Jospins Korsika-Statut das Ende der Republik einläuten oder gar einer ethnischen »Balkanisierung« Frankreichs den Weg ebnen wird. Die Herausbildung einer erfolgreichen separatistischen Rechten wie der italienischen Lega Nord ist schon wegen der divergierenden sozio-ökonomischen Strukturen in den franzöischen Regionen so gut wie nicht denkbar.

Die Lombardei als reichste Region und ökonomischer Entwicklungspol Italiens bietet dem Separatismus der Lega Nord einen ökonomischen Unterbau, der in keiner französischen Region anzutreffen ist. Während der italienische Norden der Zentralregion um Rom wirtschaftlich den ersten Rang abgelaufen hat, steht Korsika - gemessen am Bruttosozialprodukt pro Kopf - in Frankreich an letzter Stelle. Die mit Abstand reichste Region des Landes ist der Großraum Paris. Eine Region, die ökonomisch auch nur die geringste Chance hätte, den Zentralstaat wirklich politisch herauszufordern, existiert daher nicht.

Nicht zuletzt betonen selbst die anderen Sezessionisten in Frankreich, dass die Situation in der Bretagne oder dem Baskenland sich viel zu sehr unterscheide von der korsischen, als dass die Entwicklungen identisch verlaufen könnten. Zupass kommt ihnen das Autonomiestatut für die Insel natürlich trotzdem. Sollte Paris sich künftig weiter gehenden Autonomieforderungen der Bretonen oder Basken verweigern, werden diese darauf verweisen könne, dass man wohl »Bomben legen müsse, um gehört zu werden«.