Alternative Lebensformen

BioEisDiele

Glauben Sie nicht, was Sie über Kreuzberg lesen: In Wahrheit ist das ein sehr konservativer Bezirk. Der Kreuzberger, egal ob er Hassan, Hacky oder Hansjürgen heißt, ist seinen Gewohnheiten treu bis zuletzt. Wo sonst außer in Hildesheim sieht man noch »Atomkraft? Nein Danke!»-Aufkleber, wo sechsköpfige türkische Familien im Ford Taunus oder Graffiti - nein: gesprühte Parolen - wie »Dealer verpiß Dich, keiner vermißt Dich»?

Am deutlichsten spürt man den Charme der frühen achtziger Jahre im Reichenberger Kiez, dem gerade mal zwei Blocks breiten Streifen Land zwischen dem öffentlichen Grillplatz Görlitzer Park und dem Landwehrkanal, dessen Mitte die Demarkationslinie zu Neukölln bildet. In diesem Niemandsland der Zivilisation ist die Zeit seit zwanzig Jahren stehengeblieben. Aldi hat dichtgemacht, Edeka bleibt (oder: »Edeka bleibt!«, wie man hier sagt).

Dort, wo die Liegnitzer auf die Reichenberger Straße trifft, störten nur eine Zeit lang die Baukräne das Idyll, als in den benachbarten Handwerkshöfen so genannte Lofts eingerichtet wurden (veranschlagte Monatsmiete: 40 Mark pro Quadratmeter). Jetzt stehen die luxussanierten Fabriketagen endlich leer, und auch draußen ist wieder Ruhe eingekehrt. »Zum Löwen«, »Reichenberger Apotheke«, »Alt Berlin«, alles wie gehabt. Im »Asia-Imbiss Phi-Hái« (»Festsaal für 40 Personen«) sitzt ein mittelaltes Ehepaar, wahrscheinlich dasselbe, das hier immer schon saß.

Erstaunlicherweise gibt es immer wieder wagemutige Jungunternehmer, die gerade hier mit innovativen Geschäftsideen hervortreten. In der Reichenberger Straße hat kürzlich »Berlins erster Imbiß für Hunde« dichtgemacht, und die Terrasse des »Phi-Hái« - auf der freilich nie jemand sitzt - bietet die beste Aussicht auf »Berlins 1. BioEisDiele«. Früher, als das »Phi-Hái« noch einen inzwischen längst vergessenen indischen Namen hatte, konnte man von hier aus sogar die Auslage eines Geschäfts bewundern, das ausschließlich eine Art mutierter Seeigel führte, die, von der Decke hängend, im Schwarzlicht (das in dieser Gegend ebenfalls noch allgegenwärtig ist) in allen Tönen des Neon-Spektrums leuchteten.

Ob die unbekannten Betreiber des damals noch namenlosen Geschäfts diese Objekte wirklich verkaufen wollten, war nicht herauszufinden, denn in dem Laden sah man niemals irgendjemanden, auch keinen Verkäufer. Das gleiche gilt für das BioEis. Ein Schild an der Tür gibt Auskunft, von Montag bis Freitag zwischen 8 Uhr und 18 Uhr sei geöffnet, doch wenn dem so ist, dann bin ich noch nie zu dieser Zeit vorbeigekommen.

Dabei sieht das Innere der etwa zwölf Quadratmeter großen BioEisDiele, soweit man es durch die Scheiben erkennen kann, gar nicht unappetitlich aus: gelbe Fliesen, etwas Chrom, irgendwo zwischen American Diner und Amsterdamer Coffeeshop. Liebevoll wurde das Erdreich um die Linden vor dem Geschäft vom Hundekot befreit, umzäunt, bepflanzt und mit bunten Bändern geschmückt. Zwei Bänke laden zum Warten ein. Wer Geduld hat, kann von hier aus beobachten, wie irgendwann im November die Schilder gewechselt werden. Dann wird aus »Berlins 1. BioEisDiele« »Berlins 1. MüsliCafé«.