Lutz Niethammers »Kollektive Identität«

Wer ist wer und warum

Lutz Niethammer gräbt in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts nach den Wurzeln der »Kollektiven Identität«.

Was verbindet den faschistischen Staatsrechtler Carl Schmitt mit dem marxistischen Literaturtheoretiker Georg Lukács, was bei aller Gegensätzlichkeit und gar Feindschaft die Psychoanalytiker C.G. Jung und Sigmund Freud? Lutz Niethammer, Historiker in Jena, weiß die Antwort: Es ist die zentrale Rolle, die ein Konstrukt namens »kollektive Identität« in ihrem Denken spielt.

Bei seiner Recherche stößt Niethammer auf »heimliche Quellen« nach dem Ersten Weltkrieg, auf eine »unheimliche Konjunktur« nach dem Zweiten und auf »indiskutable Diskurse« in der Gegenwart. Sein Parforceritt durch die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts führt ihn durch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und vorbei an allen politischen Positionen- radikal linken und extrem rechten -, ohne dass er in Gefahr geriete, die Mitte zum Ideal zu verklären.

Völlig maßlos lässt er seinem Thema den Raum zur Entfaltung. Sicher, es wäre möglich gewesen, straff und knapp zu schreiben und mit ausgewählten Beispielen zu arbeiten. Doch Niethammer gibt sich als Extremist. Als Fußnoten-Extremist, der diese schöne Einrichtung nicht etwa nutzt, um simple Literaturverweise anzubringen, sondern um häufig eigenständige kleine Essays zu platzieren, die im Text nicht mehr unterzubringen waren. Hier lässt er seine Protagonisten auch in ausführlichen Zitaten selbst zu Wort kommen, hier, aber nicht nur hier, läuft er als Polemiker zur Hochform auf.

Niethammer - Jahrgang 1939 - nähert sich dem Ende seiner verbeamteten Wissenschaftlerlaufbahn, und offenbar wollte er noch einmal einen großen Wurf landen. Mit Freude nimmt man zur Kenntnis, dass er bei diesem Versuch die Bissigkeit, Schärfe und vor allem die Genauigkeit wiedergefunden hat, die ihm gelegentlich bei seinen Arbeiten in der Nachwendeperiode, besonders in »Der 'gesäuberte' Antifaschismus« über die »Roten Kapos« im KZ Buchenwald, abhanden gekommen waren. Niethammer findet zu den Tugenden seiner frühen Tage zurück, als er die NPD analysierte, Möglichkeiten des Antifaschismus jenseits der Parteiendogmatik vorstellte oder wesentlich dazu beitrug, die »Geschichte von unten« in Form der Oral History in Deutschland zu etablieren.

»Kollektive Identität« - das ist für Niethammer ein »Plastikwort«, ein »konnotatives Stereotyp«. Es handle sich um »den Bausatz von semantischen Mollusken, die alles und nichts bedeuten, aber wissenschaftlich klingen und zur Verwirklichung drängen«. Übersetzung gefällig? Bis 1978 lässt sich der Gebrauch des Begriffs »nationale Identität« in der Bundesrepublik kaum nachweisen. In diesem Jahr veröffentlichte der nationalrevolutionäre Theoretiker Henning Eichberg einen Band gleichen Titels. Damit beginnt der Siegeszug eines »Plastikwortes«. Wenige Jahre später gab Helmut Kohl am Stand des faschistischen Grabert-Verlages vor, im »Handbuch zur deutschen Nation« zu lesen. Es tut nichts zur Sache, dass es sich lediglich um einen Blinddruck handelte. Wichtig war, dass sich der spätere Kanzler der Einheit positiv auf das Konstrukt einer »nationalen Identität« bezog.

Bevor die »nationale Identität« in den Medien zum Modebegriff wurde, wusste sich der Kanzler volkstümlich zu behelfen. »In diesem unserem Land« war der Baustein, der in allen Reden enthalten sein musste. Die »geistig-moralische Wende« - das waren Bauarbeiten und Fassadenverschönerungen an der kollektiven-nationalen Identität. Von hier aus kann man eine Linie bis zum Besuch der SS-Gräber in Bitburg ziehen.

»Wer ist wer und warum?« ist Niethammers Leitfrage. Die Fremdbestimmung der Identität dränge danach, die Menschen zu kategorisieren, ihnen Identitäten zuzuweisen, um sie jeweils von oben - durch den Staat - verfügbar zu machen; als Steuerzahler, Fahrzeughalter oder Ausländer bzw. Steuerzahlerinnen, Fahrzeughalterinnen oder Ausländerinnen. Diese Identitätspolitik von oben ziele auf einen Menschen, der »von allen subjektiv gestaltbaren oder sonst veränderlichen Merkmalen durch seine Reduktion auf einen unverwechselbaren Datensatz« entkleidetet sei. Die Konstruktion von Identität führe zur Ent-Individualisierung, zur Normierung, zum Idealtypus, der danach bewertet werde, ob die Abweichung noch im Toleranzbereich liege.

»Die Idealbedingungen solcher herrschaftlicher Identitätsbestimmung«, urteilt Niethammer, »waren im KZ erreicht.« Durch Rasur und Uniformisierung sei das Kollektiv egalisiert, durch Zuschreibungen seien die Betreffenden dann als Juden oder Homosexuelle kategorisiert, die Individualität sei auf die Häftlingsnummer reduziert worden. Die Vorstellung, wonach Identität etwas Gutes, Notwendiges, Gesundes sei - auch die (post)moderne »Identität ˆ la carte« - führe notwendig zur behaupteten Wesensgleichheit eines Kollektivs. Die Einzigartigkeit des Subjekts werde im Extremfall zum Verschwinden gebracht. Sei die Frage nach der »Identität« zu Beginn des Diskurses ein Krisensymptom gewesen, so sei sie im gegenwärtigen »Jahrmarkt der Identitäten« die Voraussetzung der Debatte. Zu welcher Community gehörst du?

Niethammer fragt, wann wie und aus welchen Gründen in diesem Jahrhundert der Identitätsbegriff vom individuellen auf den sozialen Raum übertragen worden ist. Antworten auf diese Frage finden sich sowohl bei Carl Schmitt, der Demokratie als »Identität zwischen Regierenden und Regierten« bestimmt, wie auch bei C. G. Jung, für den Individualität durch das Wirken von »Archetypen« nur in eingeschränkter Form möglich war. Es gelte, den »semantischen Nebel« des Geredes von der kollektiven Identität zu durchdringen, so Niethammers Ansatz.

Georg Lukács, ein zentraler Exponent des »westlichen Marxismus«, der in der Bundesrepublik besonders durch die Studentenrevolte seine Wirkungsmacht erlangte und hier in seiner Widersprüchlichkeit und mit all seinen Wendungen sehr feinfühlig und detailgenau beschrieben wird, dient als Beispiel für die linke Variante der Identitäts-Semantik. Die »Verkrustung neuer Klassenbildung, Apparatisierung und Militarisierung der Gesellschaften« habe verhindert, »aus dem Proletariat als ausgezeichnetem Objekt der modernen Geschichte das Subjekt ihrer Zukunft zu machen«. Ein Teil des Scheiterns der »Systemalternative«, so lässt sich schlussfolgern, hat ihre Ursache darin, dass Klassen- zur Identitätspolitik gerann.

Weil Niethammer als Historiker stets auch politischer Mensch ist, versteht es sich von selbst, dass er das umfangreiche Schlusskapitel nutzt, um die »Spuren kollektiver Identität im politischen Zeitgeist« als »indiskutable Diskurse« aufzuspüren. Hier sind die Spuren noch frisch, doch zugleich hat er bei der Untersuchung der zeitgenössischen Identitätspolitiken große Mühe, da das Feld unübersichtlich geworden ist und sich die Identitätsangebote vervielfacht haben. Die »Welt Amerikas« durchstreift er von Francis Fukuyamas »Ende der Geschichte« bis zu Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen«, ohne dabei das »kommunitaristische Puzzle« zu vernachlässigen.Auf der Suche nach einem identitären Gegengewicht zu dieser Welt stößt er auf die »Zuflucht Europa« und dort auf Vordenker wie Jürgen Habermas und Ulrich Beck. »Die Antwort ist Soziologie. Was war die Frage?«

Niethammer beschreibt die Neue Rechte zwischen »internationalem Nationalismus und soziobiologischer Identität« als Ausdruck der »regressiven Welle«. An diesem Frontabschnitt des Identitätskampfes kapituliert er jedoch vor der Materialfülle, verfolgt die bereits benannten Traditionslinien nicht weiter bis in die Gegenwart, dorthin, wo viele Motive der Neuen Rechten mit denen des Kommunitarismus fast identisch werden. Für solche Schwächen entschädigen allerdings die Ausflüge zum »Modell Deutschland«, zu Arnulf Baring und Peter Sloterdijk.

»Darfs etwas weniger sein?« fragt Niethammer zum Ausklang seines »Wahnsinnsprojektes«. Aber sicher, so zwei- bis dreihundert Seiten weniger hätten es sein dürfen. Aber dann hätten die Identitätskonstrukteure nicht so ausführlich für sich selbst sprechen können und die meist treffenden Seitenhiebe wären unterblieben. Und Niethammer hätte sein Reiseprogramm durch die Untiefen identitärer Zwangsvorstellungen stark einschränken müssen.

Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Rowohlt, Reinbek 2000, 679 S., DM 32,90