Ein Herz für die Welt

Während Christen, Autonome und Kommunisten in Prag gegen die Globalisierung protestieren, versteht der Präsident der Weltbank seine Kritiker und ruft zur Solidarität mit den Armen auf.

Fast könnte James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, einer von ihnen sein. Wenn in dieser Woche Tausende in Prag gegen das Treffen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) demonstrieren, dürfen sie zumindest teilweise mit der Sympathie ihres Widersachers rechnen. »Meine Sicht der Demonstrationen ist nicht völlig negativ. Ich begrüße die weltweite zunehmende Besorgnis über Themen wie Gleichheit und Armut«, zitiert ihn die britische Tageszeitung The Independent. Glaubt man dem eloquenten Chef einer der mächtigsten Finanzinstitutionen der Welt, dann schlägt auch sein Herz für die Armen und Entrechteten.

»Die Kürzung der öffentlichen Entwicklungshilfe ist ein Verbrechen«, erklärte er vergangene Woche, nur wenige Tage vorm Beginn der Konferenz. Die Industrieländer würden heute erheblich weniger als die vereinbarten 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufwenden. Und dies angesichts der Tatsache, dass mittlerweile 20 Prozent der Länder über 80 Prozent des weltweiten Sozialprodukts verfügten. Sollte sich an diesem Zustand nicht bald etwas ändern, drohe der Welt eine soziale Katastrophe - Aufruhr, Bürgerkrieg und unvorstellbare Flüchtlingsströme. Die Armutsbekämpfung sei daher auch » im Interesse der reichen Länder«, so Wolfensohn weiter.

Solche Worte hörte man zumindest bei den moderaten Gegnern der Globalisierung gerne, die sich am vergangenen Samstag im wörtlichen Sinn auf den Weltbank-Präsidenten zu bewegten. Auf Einladung des tschechischen Präsidenten Vaclav Havel trafen sich Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf der Prager Burg zu einer Podiumsdiskussion, an der neben Wolfensohn auch IWF-Chef Horst Köhler teilnahm.

Dort kritisierte der philippinische Menschenrechtsaktivist Walden Bello die beiden Vertreter scharf wegen der Unterstützung des indonesischen Suharto-Regimes - und bekam dafür von Köhler zu hören, dass auch er gegen die Armut kämpfe und »ein Herz besitzt«. Immerhin habe man trotz aller Gegensätze gemeinsam diskutiert, resümierte Ann Pettifor von der britischen Menschenrechtsgruppe Jubilee 2000 das Gespräch. Eine Einschätzung, die auch Gastgeber Havel teilte. »Dass wir einmal nebeneinander sitzen, hätte ich nicht gedacht«, sagte Bello später kopfschüttelnd zu dem mächtigen Weltbank-Vorsitzenden, wie der Standard berichtete.

Während das historische Treffen zwischen Weltbank, IWF und ihren Kritikern am Abend friedlich in einer Gartenparty mit Gulasch und Gebäck zu Ende ging, hatten andere Globalisierungsgegner bereits die Prager Innenstadt zeitweise lahm gelegt. Am Samstag demonstrierte die tschechische KP zusammen mit deutschen, britischen und belgischen Genossen und Gewerkschaftern. Am selben Vormittag gingen rund 3 000 Demonstranten, darunter viele Autonome, gegen ein Nazitreffen auf die Straße. Im Letan Park hatten sich etwa 100 Neonazis eingefunden, um gegen das internationale Finanzkapital zu protestieren.

Schwierigkeiten, überhaupt nach Prag zu gelangen, hatten hingegen die etwa 1 000 italienischen Aktivisten, die mit einem Sonderzug anreisten. Nachdem vier von ihnen von der tschechischen Polizei zu unerwünschten Personen erklärt worden waren, blockierten die Globalisierungsgegner die gesamte Zugverbindung an der Grenze. Sie kamen erst in der Nacht zum Sonntag in Prag an und verpassten damit zumindest den Abschluss des Gegengipfels, der von der Initiative gegen ökonomische Globalisierung (Inpeg) organisiert wurde. Dort fanden neben dem Festival »Kunst des Widerstands« auch Gottesdienste und eine Prozession für die Erlassjahrkampagne 2000 statt.

Die rigiden Grenzkontrollen könnten allerdings, neben dem größten Polizeieinsatz in der tschechischen Geschichte seit 1968, ein Grund dafür sein, dass sich die Proteste bisher in Grenzen hielten. Mehreren tausend Personen, die zum global action day am vergangenen Dienstag kommen wollten, wurde nach Angaben von Inpeg die Einreise verweigert. »Für jeden eingetroffenen Aktivisten wurde ein anderer an der Grenze zurückgewiesen«, sagte ein Inpeg-Sprecher.

Doch selbst wenn die Proteste in dieser Woche nicht so heftig ausfallen sollten, wenn Prag doch nicht zu einem zweiten Seattle wird, so zeigen die empfindlichen Reaktionen von IWF und Weltbank den Einfluss, den die Globalisierungsgegner mittlerweile auf beide Institutionen ausüben.

Vor nicht allzu langer Zeit waren solche Verbindungen noch undenkbar. Als 1988 über 80 000 Menschen in Berlin gegen den »IWF-Mördertreff« demonstrierten, hätten die Repräsentanten des internationalen Kapitals wohl kaum künftige Gesprächspartner darunter vermutet. Dass sich diese Einschätzung geändert hat, lag vor allem an den Finanzinstitutionen selbst - oder vielmehr an ihrem Scheitern.

Seit ihrer Gründung existiert eine klare Aufgabenteilung zwischen den beiden Organisationen. Während der Fonds vor allem für Krisen-Interventionen und rabiate Sofortmaßnahmen zuständig war, sollte sich die Weltbank der langfristigen Entwicklung widmen. Gigantische Projekte wurden in den letzten Jahrzehnten finanziert, um die Loser der Weltwirtschaft zu modernisieren. Die Berater von der Weltbank empfahlen den Bau riesiger Staudämme, für die so manche Region entvölkert werden musste. Die Agrarwirtschaft ganzer Länder wurde auf Monokulturen umgestellt, um Devisen zu erwirtschaften.

Am Ende war der Schaden häufig größer als der Nutzen. Spätestens in den neunziger Jahren mussten die Ökonomen das Scheitern ihrer Strategie erkennen. Statt die Armut zu lindern, trugen die Projekte in ihrer Summe zu einer noch größeren Ungleichheit bei. In vielen Fällen wurden die unterstützten Staaten erst recht abhängig vom Weltmarkt. Und die Devisen reichten nicht einmal, um dem Schuldendienst nachzukommen. Von diesen Entwicklungen haben häufig die jeweiligen lokalen Eliten und Diktaturen profitiert - und natürlich die Länder des reichen Nordens.

Die Bilanz der beiden Institutionen sieht bei ihrem ersten Treffen im neuen Jahrhundert verheerend aus. In den meisten afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten liegen heute die durchschnittlichen Einkommen unter dem Niveau der sechziger Jahre. In Brasilien, das in den vergangenen Jahrzehnten als Dauerkandidat für den Sprung in die so genannte Erste Welt gehandelt wurde, ist rund die Hälfte der Bevölkerung von sicheren Einkommen, medizinischer Versorgung und Bildung faktisch abgeschnitten. Statt dessen organisiert die Landlosenbewegung Movimento Sem Terra, deren Vertreter ebenfalls in Prag erwartet werden, derzeit wieder eine landesweite Kampagne für die Enteignung brachliegenden Grundbesitzes - als ob sich seit der Zeit der Militärdiktatur vor 30 Jahren nichts geändert hätte. Trotz der IWF-Milliardenkredite und der Legionen von Weltbank-Beratern.

Diesen Tatbestand kann auch Wolfensohn mittlerweile kaum mehr ignorieren. So erklärt sich wohl auch sein kleinlautes Auftreten an der Moldau. Viel hat er nicht mehr anzubieten. Denn seinen Aussagen über den Kampf gegen die Armut liegen nicht mehr die großen Fortschrittsversprechen vergangener Zeiten zu Grunde - oder der Glaube, dass auch die Schwachen irgendwann, nach selbstverständlichen und notwendigen Opfern, an den Segnungen des Weltmarktes teilhaben werden. Sein Appell zur Solidarität mit den Armen klingt heute vielmehr nach Caritas. Den Verlierern wird nur noch ein Almosen angeboten, um sie ruhig zu halten.