Skandal um Jacques Chirac

Politique policière

Das Video eines Ex-Mitarbeiters des französischen Präsidenten zeigt, dass Chirac mit kriminellen Mitteln an die Macht kam.

Bisweilen geht die gesellschaftliche Realität über Fiktionen hinaus, wie sie normalerweise nur Krimi-Autoren und Filmemachern in den Sinn kommen. Dann liest man nicht mehr zwischen Taschenbuch-Deckeln von wohlgefüllten Geldkoffern, von Toten, die aus dem Jenseits sprechen und Informanten, die um ihr Leben fürchten, sondern auf den großformatigen Bögen angesehener Abendzeitungen. Nicht jedem gefällt es allerdings, wenn solche Dinge vor dem Hintergrund der »großen Politik« und in der direkten Umgebung jenes Mannes spielen, der zur Zeit das höchste Staatsamt in Frankreich innehat. Als »Kloake, die von Mafiosi regiert wird« bezeichnete etwa der linksradikale Europaparlamentarier Alain Krivine jene Vorfälle, die die französische Öffentlichkeit seit Ende vergangener Woche beschäftigen.

Auf mehreren Seiten hatte Le Monde am Donnerstag und Freitag die Abschrift eines Videos publiziert, das dem Blatt zugespielt worden war. Absender war der Publizist und Dokumentarfilmer Arnaud Hamelin, Chef des Medienunternehmens Sunset Presse. Dieser war im Mai 1996 vom führenden Geldbeschaffer der bürgerlichen Rechten unter Jacques Chirac, dem Immobilienmakler Jean-Claude Méry, angesprochen worden.

Méry wollte eine Videoaufnahme anfertigen lassen, »für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte«. Im Falle eines »verdächtigen Todes«, so Méry, sollte Hamelin das Video einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Bei einem natürlichen Tod habe er Instruktionen abzuwarten. Die Aufnahme dürfe nur veröffentlicht werden, falls es keine anderslautenden Anweisungen gebe. Méry starb im Juni 1999 an Krebs; und da er keine anderen Direktiven hinterließ, entschied sich Hamelin jetzt, das »geschichtliche Dokument« in Le Monde zu publizieren. Zuvor hatten mehrere Fernsehkanäle eine Ausstrahlung abgelehnt.

Der Geschäftsmann Méry war im Sommer 1994 ins Visier des Untersuchungsrichters Eric Halphen geraten, der Ermittlungen über illegale Finanztransaktionen im sozialen Wohnungsbauwesen der französischen Hauptstadt führte. Schon seit Jahren war Méry als Zuarbeiter des damaligen Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac bekannt - er erfreute sich so guter Verbindung in die Mairie de Paris, das Pariser Rathaus, dass sein Spitzname »Méry de Paris« lautete. Von September 1994 bis März 1995 saß er in Untersuchungshaft.

Nachdem Le Monde im Mai 1996 über Mérys finanzielle Aktivitäten in der Schweiz berichet hatte, entschloss sich das Mitglied im Zentralausschuss von Chiracs RPR dazu auszupacken. Vor der Kamera Arnaud Hamelins stand er Rede und Antwort.

Detailgenau berichtet der Geldbeschaffer in dem Video, wie er sein klandestines System etabliert hatte. Als inoffizieller Beauftrager der Pariser Stadtregierung fing er 1985 damit an, bei all jenen Privatunternehmen die Hand aufzuhalten, die im Bereich des sozialen Wohnungsbaus auf Aufträge der öffentlichen Hand lauerten.

»Die Tatsache, dass diese Unternehmer an einem einzigen Mann, an meinem Büro vorbeikommen mussten, und die Tatsache, dass ich die endgültige Entscheidung über die Vergabe öffentlicher Aufträge vollständig beherrschte...«, deutete Méry nur an, wie er Anreize zur Zahlung stattlicher »Kommissionen« setzte.

Bis zu 1,5 Prozent Provision habe er pro Auftrag eingestrichen, präzisierte Méry in dem Video - bei einem Gesamtvolumen von 1,5 Milliarden Francs (230 Millionen Euro) jährlich. Seine »Kommissionen« erhielt er meistens in bar, machmal aber auch in Form von Sachleistungen.

Zu den größten Profiteuren des Arrangements gehörten die Multi-Konzerne Générale des Eaux und Lyonnaise des Eaux, die neben ihrem Hauptgeschäft in der kommunalen Wasserversorgung in einer Vielzahl von Sektoren, darunter auch im Baubereich, tätig sind.

Zwar war Chiracs RPR die erste Adresse für die Zahlungen, doch gemäß Mérys Motto , dass »jedes Mal, wenn genug zu essen für alle da ist«, »an alle« verteilt werde, kamen auch die anderen Parteien in den Genuss der Schmiergelder. Kommissionszahlungen für die Instandhaltung der Gymnasien im Großraum Paris etwa wurden unter den großen Parteien aufgeteilt: fünf Millionen Francs an die bürgerliche Rechte (RPR und UDF), 3,5 Millionen an die Sozialdemokratie und 1 Million an die KP. Doch Méry legt Wert darauf, das System der Parteienfinanzierung erst auf Initiative Chiracs eingerichtet zu haben: »Wir arbeiten ausschließlich auf Anordnungen von Herrn Chirac.«

Besonders eindrucksvoll wird Mérys Erzählung, als er berichtet, wie er im Oktober 1986 auf den Schreibtisch von Chiracs damaligem Kabinettsdirektor Michel Roussin einen mit 5 Millionen Francs gefüllten Geldkoffer stellte - im Beisein von Chirac. »Sie verstehen es, Geld zu verdienen«, lobte ihn der bereits zum Premierminister aufgestiegene RPR-Chef. Roussin selbst, so Méry, habe ihn 1985 zu seinen Geldbeschaffungs-Diensten angestiftet.

Auch wenn die Veröffentlichung der Videobeichte des »Maklers von Paris« inhaltlich wenig Neues bringt, so werden doch die Berichte über die dunklen Geschäfte im Pariser Rathaus unter Chirac mit Leben gefüllt. Seit Jahren ist es hier ein offenes Geheimnis, dass die Mairie zwischen 1977 und 1995 als Geldsammelstelle der Neogaullisten diente, die Chiracs Sprung an die Staatsspitze finanzierte.

Méry war dabei die zentrale Figur. Nach seiner Entlassung aus der fünfmonatigen Untersuchungshaft im März 1995, so berichtet der anscheinend gebrochene Mann, habe man ihm Versprechungen gemacht und gleichzeitig gedroht für den Fall, dass er auspacke. Schließlich hätte ein Auffliegen der Zahlungen Chirac im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1995 wohl jede Chance genommen. Als die versprochenen Gelder ausblieben, fürchtete Méry, aus dem Wege geräumt zu werden. Auf Anraten von Freunden habe er die Videoaufnahme anfertigen lassen und sie an einem sicherem Ort hinterlegt.

Gefährlich für Chirac, der die Vorwürfe am Wochenende vehement bestritt und als Staatspräsident absolute strafrechtliche Immunität genießt, könnte allerdings sein Parteifreund Jean Tiberi werden, zur Zeit Bürgermeister von Paris. Unter Bürgermeister Chirac für das Wohnungswesen in der Hauptstadt zuständig, weiß er über die absonderlichen Abläufe in der Mairie bestens Bescheid. Weil er selbst Korruptionsvorwürfe am Hals hat, will ihn die RPR-Führung nicht als Spitzenkandidaten für die Kommunalwahl im kommenden Frühjahr nominieren. Ein guter Grund auszupacken. Und im Unterschied zum toten Méry bliebe hier die Gelegenheit für Nachfragen.