Brasiliens Olympia-Krise

Kein Sieg, kein Problem

Nur sechs Silber- und sechs Bronzemedaillen stürzen Brasiliens Sportfans in eine kollektive Krise. Aber Gold ist nicht alles.

Mit bemerkenswerter Konsequenz hat die brasilianische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Sydney eine Leistung vollbracht, die vorher keiner erwartet hatte. Bis zum letzten Tag haben die Athleten - ganz gleich in welcher Disziplin sie angetreten sind - den in sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden können. Ja, sie haben diese sogar auf teilweise recht spektakuläre Weise enttäuscht: Zum ersten Mal seit 1976 hat Brasilien keine einzige Goldmedaille gewonnen, in den populären Mannschaftssportarten konnte keines der Teams - zum ersten Mal seit 1980 - ein Endspiel erreichen. Nun ist das Gejammer groß, sogar von einer Sinnkrise wird gesprochen.

Dabei waren vor der Olympiade die Hoffnungen groß gewesen, die bisherige Rekordausbeute von 15 Medaillen - davon drei goldene -, die 1996 in Atlanta erzielt worden war, zu überbieten. Zuversichtlich hatte man eine beeindruckende Reihe von Sportlern zu Goldfavoriten, zumindest aber zu Medaillenanwärtern erkoren. Im Beach-Volleyball und beim Fußball der Männer wurde Gold erwartet. Daneben gab es aber auch im Tennis, Springreiten, Segeln und Volleyball aussichtsreiche Teilnehmer.

Aber dann sollte alles anders kommen als geplant. In der ersten Woche war das Ergebnis mit einer Bronzemedaille im Schwimmen und zwei silbernen im Judo recht dürftig ausgefallen. Mit der Viertelfinalniederlage der so hoch gehandelten Seleção Olímpica gegen nur neun Spieler von Kamerun sorgte der Fußball für den ersten Tiefpunkt. Ein Schock, sicher, aber die Top-Favoriten in den anderen Sportarten würden diesen Ausfall schon kompensieren können.

Doch täglich folgten nun neue Hiobsbotschaften. Guga, Gustavo Kuerten, kam im Tennis nicht über das Viertelfinale hinaus. Erst versagten dem für kaum bezwingbar gehaltenen Damen-Duo Shelda und Adriana im Beach-Volleyball im Finale die Nerven, einen Tag darauf geschah Zé Marco und Ricardo bei den Herren dasselbe. Immerhin zwei Silbermedaillen, aber weniger als gedacht. Die beiden Hallenvolleyballteams wurden nun zu den neuen Hoffnungsträgern. Prompt verloren die Herren ihr Viertelfinale - nach fast makelloser Vorrunde mit nur einem Satzverlust - gegen Argentinien. Die Damen schieden einen Tag später im Halbfinale gegen Kuba aus.

Sportarten, die sonst in Brasilien ein Schattendasein führen - wie Segeln und Reiten - rückten nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch am letzten Tag gelang das nicht einmal mehr den eigentlich gut platzierten Springreitern. Goldlos rutschte Brasilien auf Rang 53 des Medaillenspiegels mit sechs Silber- und sechs Bronzemedaillen. Als die Fußballer verloren hatten - die größte Schmach seit der Niederlage gegen Uruguay bei der WM 1950 -, war die erste Reaktion Fassungslosigkeit, in die sich teilweise Genugtuung mischte, dass nun wenigstens der verhasste Trainer Wanderley Luxemburgo würde gehen müssen.

Die Kommentare in den Zeitungen boten eine bunte Mischung von Erklärungen für das nun schon zum wiederholten Male von afrikanischen Mannschaften verursachte Missgeschick. Zum einen wurde - was nahe liegt - Trainer und Mannschaft taktische Dummheit und einigen Spielern technisches Unvermögen attestiert. Insbesondere Luxemburgo war schon in den letzten Monaten stark kritisiert worden. Er gilt nicht nur als arrogant, unmittelbar vor den Spielen wurde auch eine Reihe von Anschuldigungen gegen ihn publik. So steht ihm demnächst ein Prozess wegen Steuerhinterziehung bevor, außerdem gibt es Vorwürfe, er habe sich bei Spielertransfers persönlich bereichert und in seiner Zeit als Spieler sein Alter gefälscht, um in Mannschaften mit Altersgrenze auch als älterer Spieler spielen zu können. Mit diesen Problemen belastet, sei der Trainer also die denkbar schlechteste Wahl - und letzten Samstag kam dann auch die erlösende Nachricht seiner Demission.

Auf der anderen Seite wurde ins Feld geführt, dass die Zeiten, in denen Brasilien wie selbstverständlich die beste Mannschaft der Welt war, schlicht vorbei seien. Diese Überheblichkeit gelte es abzulegen. Natürlich gab es auch hämische Vorwürfe, die verhätschelten Millionäre seien nicht gewillt, für etwas Ideelles wie eine Goldmedaille zu kämpfen. Es fehle ihnen einfach an Patriotismus.

Waren zunächst nur die Fußballer Adressaten von guten Ratschlägen, so erfasste mit der Reihe von Niederlagen in anderen Sportarten die Krise bald das ganze Land. Woran liegt es, dass den brasilianischen Sportlern selbst bei technischer Überlegenheit in den entscheidenden Momenten die Nerven versagen? Haben Brasilianer vielleicht Angst vor dem Erfolg? Insbesondere Galvão Bueno, Chef-Sportkommentator des Fernsehsenders Rede Globo blieb es vorbehalten, über die psychischen Defizite seiner Landsleute zu spekulieren. Oblag es ihm doch, Nacht für Nacht den Zuschauern die neuen Pleiten zu erklären.

Forderte er im Anschluss an die Niederlage im Volleyball der Herren gegen den Erzrivalen Argentinien, den man seit den letzten Olympischen Spielen in 21 Begenungen immer besiegt hatte, noch ein irgendwie geartetes »nationales Projekt«, das den Brasilianern die Angst zu gewinnen nehmen sollte, so beschloss er gegen Ende der Spiele, dass eine Silbermedaille eigentlich genauso schön wie Gold sei, zumal wenn sie wie in der 4-mal-100m-Staffel gegen einen vermeintlich unschlagbaren Gegner wie die USA errungen wurde. Die Idee eines nationalen psychischen Problems hatte sich jedoch bereits in den Medien etabliert.

Der Trainer der Volleyball-Damen, nach der Niederlage gegen Kuba mit der Frage konfrontiert, ob es nicht im mentalen Bereich bei seinen Spielerinnen gehapert habe, wischte diese Vorstellung genervt beiseite und erklärte, der Gegner sei nun mal in einem hervorragenden Spiel eine Idee besser gewesen. Wenn man aber sieht, auf welche Art auch die letzten Goldhoffnungen erloschen, dann scheint es mental doch nicht so ideal zu sein. So hatten im Starboot die Segler Torben Grael und Marcelo Ferreira bis zur elften und letzten Regatta souverän geführt, um dann einen Fehlstart zu produzieren. Disqualifiziert mussten sie mit Bronze Vorlieb nehmen.

Schließlich Rodrigo Pessoa: In den letzten Jahren der erfolgreichste Springreiter, in der Mannschaftswertung der Beste und im ersten Umlauf der Einzelwertung fehlerfrei, scheiterte er im entscheidenden Umlauf an einem Hindernis, das der Konkurrenz keinerlei Probleme bereitet hatte. Als ob das nicht reichte, wollte sein Pferd schließlich überhaupt nicht mehr weiterspringen und verweigerte gleich dreimal. Da kann man schon ins Grübeln kommen.

Aber letztlich ist wohl José Geraldo Couto zuzustimmen, der in der Folha de S.Paulo vom 30. September monierte, dass die Bedeutung der Goldmedaille überschätzt werde. Kaum ein Team hat wohl wie das brasilianische auf so überzeugende Weise den olympischen Gedanken, dass Mitmachen und nicht Siegen zähle, verwirklicht: ein paar schöne Auftritte und im entscheidenden Moment die Größe, nicht um jeden Preis gewinnen zu müssen.