Alternative Lebensformen

Die November-Deutschen

Wenn deutsche Politiker das Volk mobilisieren, ist stets Vorsicht geboten. Erst recht, wenn sie es am 9. November tun. Ganz Deutschland, so wünschen es sich die führenden Köpfe aus Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Verbänden, soll am Jahrestag der Pogromnacht von 1938 auf die Straße gehen. Von der jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße zum Brandenburger Tor marschierend, angeführt von niemand Geringerem als dem Kanzler des neuen Deutschlands, Gerhard Schröder (SPD), und dem Regierenden Bürgermeister seiner Hauptstadt, Eberhard Diepgen (CDU). Diepgen war sich zwar am 26. Januar dieses Jahres zu schade, am symbolischen Baubeginn des Holocaust-Mahnmals teilzunehmen, andere Termine - er verriet allerdings bis heute nicht, welche - waren damals wichtiger. Wenn es aber darum geht, sich am 9. November an die Spitze der Volksmassen zu setzen, lässt sich der Mann nicht lange bitten.

Kein Wunder: Alle sind aufgerufen - und alle rufen auf: die Kirchen, die Gewerkschaften, die Parteien. Um der nationalen Gemeinschaft willen hat die CDU sogar ihre Vorbehalte gegen die PDS aufgegeben - in geschichtsträchtigen Augenblicken kennt man eben keine Parteien mehr. Hauptsache ist doch, die breite Masse fühlt sich angesprochen. Denn was wäre ein von Deutschen initiierter symbolischer Akt am 9. November ohne die rege Beteiligung der Massen? Der ganze Symbolwert des Spektakels ginge verloren.

Nach dem feierlichen Wiedereinzug in den Deutschen Reichstag, der historischen Entsorgung der Zwangsarbeiter-Entschädigungsforderung, dem unter Rot-Grün erstarkten neuen undiplomatischen Selbstbewusstsein auf internationaler Ebene passen die Nachrichten über Gewalttaten gegen ausländische Menschen nicht so recht zum Image, das sich Deutschland so gerne geben will. Deswegen betonen die vielen, vielen, ja wirklich vielen Initiatoren des diesjährigen deutschen November-Events, sie stünden »für ein menschliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland«. Nicht etwa nur für Menschlichkeit und Weltoffenheit allein. Nein, Deutschland muss schon dabei sein. Ohne ihr Deutschland können und wollen sie nicht auf die Straße gehen.

Schließlich dient der aufwendig inszenierte Marsch der Anständigen nur einem einzigen Zweck: Diejenigen zu diskreditieren, die weiterhin den braunen deutschen Mob und die selbstbewussten Führer der Berliner Republik zur Sprache bringen und damit der deutschen Imagepflege entgegenwirken. Immigranten, die von ständigen Pöbeleien berichten, wie Botschaftern, die sich besorgt über den rassistischen deutschen Alltag äußern, will man künftig entgegnen können: »Aber an unserem heimlichen Nationalfeiertag, dem 9. November, sind Tausende für unser neues Deutschland auf die Straße gegangen.« Und so können die Deutschen weiterhin ein Volk von zu vernachlässigenden Einzeltätern bleiben.