Ephraim Kleiman, Ökonomie-Professor an der Hebrew University

»Gaza ist nicht Bangladesch«

Die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern haben langfristige Auswirkungen auf die ökonomische Situation der beiden Gebiete. Schon seit den palästinensischen Selbstmordattentaten Mitte der Neunziger dürfen nur noch wenige Palästinenser legal in Israel arbeiten. Die momentanen Abriegelungen haben die Situation weiter verschärft. Als 1993/94 in Paris Israelis und Palästinenser eine gemeinsame Freihandelszone vereinbarten, war Ephraim Kleiman dabei - als ökonomischer Berater der israelischen Delegation. Heute lehrt Kleiman Ökonomie an der Hebrew University in Jerusalem.

Welche Auswirkungen haben die Auseinandersetzungen der letzten Monate auf die ökonomische Situation im Gaza-Streifen, der Westbank und in Israel?

In Israel haben die Auseinandersetzungen einen unmittelbaren Effekt auf den Tourismus. Die Auswirkungen auf die Tourismusbranche sind für die nächsten Jahre nicht absehbar. Das andere Problem für Israel ist, dass die Absatzmärkte in der Westbank und im Gaza-Streifen zum Teil weggebrochen sind. Einmal wegen der fallenden Einkommen in Gaza und Westbank. Und zum anderen wegen der Schwierigkeiten, die Waren zu transportieren. Die Transitstellen werden fast täglich geschlossen. Mal von der israelischen Armee, dann wieder von den Palästinensern. Die Waren kommen nicht an, oder sie verderben während der Wartezeiten.

Hat das Konsequenzen für die ausländischen Investitionen in Israel?

Israel war in den letzten drei Jahren sehr attraktiv für Investitionen aus dem Ausland. Die Friedensgespräche schienen voranzugehen, und die Region schien sich als stabiler Markt zu entwickeln. Aber Umfragen zeigen, dass es in den letzten Monaten einen Umbruch gab. Niemand investiert Geld in Gegenden, die sehr unsicher sind.

Das gilt ja auch für die palästinensischen Gebiete.

Die Palästinenser werden ökonomisch sehr viel härter getroffen. Sie sind bei allen Ex-und Importen von Israel abhängig. Über ihren Schiff- und Flughafen können sie keine größeren kommerziellen Güter transportieren. Sie sind daher auf israelische Häfen angewiesen. Und die palästinensischen Arbeiter kommen nicht zu ihren Arbeitsplätzen nach Israel. Selbst wenn die Zahl derer, die in Israel arbeiten dürfen, nicht mehr sehr groß ist, hat das Auswirkungen auf die palästinensische Wirtschaft.

Weshalb arbeiten weniger Palästinenser in Israel?

Bis Anfang der Neunziger konnte jeder kommen und in Israel arbeiten. Diese Situation änderte sich während des Zweiten Golfkriegs. Aber der große Umschwung kam erst 1993/1994 in Gaza. Der Grund waren terroristische Anschläge gegen Israel. Als Reaktion darauf riegelte die israelische Regierung im Frühjahr 1993 das Gaza-Gebiet ab. Das heißt, für palästinensische Arbeiter war es nicht möglich, nach Israel zu gelangen. Nach palästinensischen Selbstmordattentaten 1995 und 1996 wurden die Absperrungen auf alle palästinensischen Gebiete ausgeweitet.

Durften dann überhaupt noch Palästinenser in Israel arbeiten?

Wer in Israel arbeiten wollte, benötigte eine spezielle Arbeitserlaubnis. Menschen unter 25, Unverheiratete, Alleinstehende usw. hatten keine Chance. Weil die ja vermeintlich eher bereit sein könnten, Selbstmordattentate zu verüben als jemand mit fünf Kindern. Die Anzahl der Palästinenser in Israel sank kontinuierlich. Schließlich erlaubte die israelische Regierung ausländischen Arbeitern, ins Land zu kommen. Je weniger die Palästinenser akzeptiert wurden, desto größer wurde der Druck, ausländische Arbeiter aufzunehmen.

Wieviele palästinensische Arbeiter gibt es denn jetzt in in Israel?

Als die Abriegelungen beendet wurden, arbeiteten zwischen 120 000 und 130 000 Palästinenser in Israel. Etwa die Hälfte davon legal, der Rest illegal. Das ist immer noch eine hohe Zahl - so hoch wie während des Höchststandes 1992 vor den ersten Abriegelungen. Aber die palästinensische Arbeitskraft ist heute sehr viel weniger wert, da die Hälfte der Palästinenser illegal arbeitet und somit wenig Rechte und Lohn erhält.

Sind ausländische Arbeitskräfte billiger als die aus Gaza oder der Westbank?

Ja. Zum einen wegen der Steuern. Palästinenser werden in dieser Hinsicht wie Israelis behandelt. Von der Lohnsteuer auf die Arbeit der Palästinenser gehen drei Viertel an die palästinensischen Autoritäten, nicht an die Israelis. Die ausländischen Arbeiter hingegen werden wie Expatriierte behandelt. Das heißt, für sie müssen weniger Steuern bezahlt werden. Der Hauptgrund ist aber, dass es auf der ganzen Welt ein großes Angebot von Arbeitern gibt, die für wesentlich weniger Lohn arbeiten als die Palästinenser.

Viele beschreiben die Situation in Gaza als grauenerregend, aber sie ist himmelweit von der Situation zum Beispiel in Bangladesch entfernt. Das muss klar sein. Gaza ist offensichtlich nicht Bangladesch. So sehr die Einkommen der Palästinenser in den letzten drei Jahren, nicht erst in den letzten drei Monaten, negativ beeinflusst wurden, sind sie immer noch weit höher als in der Dritten Welt.

Bekommen die Palästinenser weniger Lohn als die Israelis?

Nun, inzwischen ist die Hälfte von ihnen illegal in Israel. Die bekommen das, was der Markt bestimmt. Und sie müssen dann noch mit den ausländischen Arbeitern konkurrieren. Bei den Legalen kommt es darauf an, wo sie arbeiten. Aber sie verdienen zumindest den israelischen Mindestlohn. Es ist schwer zu vergleichen. Es gibt wenige Israelis, die die gleiche Arbeit machen wie die Palästinenser. Und: Für ausgebildete Palästinenser gibt es keine Arbeit in Israel. Die große Nachfrage nach Arbeitskräften gilt den Ungelernten. Die ungelernten Palästinenser bekommen in etwa die gleichen Löhne wie die ungelernten Israelis.

Verdienen die Arbeiter in den palästinensischen Gebieten wesentlich weniger als in Israel?

Vor den Abriegelungen wurden die Gehälter dadurch angeglichen, dass Israelis in Gaza und der Westbank gearbeitet haben und umgekehrt. Weil es jetzt für Palästinenser so schwierig ist, nach Israel zu kommen, ist das Gehalt in Israel inzwischen sehr viel höher als in Gaza und der Westbank.

Es gab einmal Überlegungen und Diskussionen, dass Israel und die Palästinenser eine gemeinsame Ökonomie in der Region aufbauen.

Es gibt verschiedene Überlegungen in dieser Richtung. Eine ist die Vision des Neuen Nahen Ostens. Aber die ökonomische Integration in den Nahen Osten bringt nicht viel ein, weil die Märkte hier relativ klein sind. Die großen Märkte sind die im Norden - die EU, die USA. Außerdem gibt es immer noch den großen nationalistischen Traum von der starken Arabischen Nation, nicht nur bei den Palästinensern. Wenn die Sanktionen gegen den Irak aufgehoben werden, haben die Palästinenser dort einen schönen Markt. Aber das wird nicht der Motor des Wachstums sein.

Versucht die israelische Regierung mit ökonomischem Druck die Situation zu entschärfen?

Das ist eine zwiespältige Sache. Einerseits kann der ökonomische Druck auf die palästinensischen Autoritäten hilfreich sein, gleichzeitig darf die ökonomische Situation nicht über einen bestimmten Punkt hinaus strapaziert werden. Ab einem gewissen Grad reagieren Menschen immer extremer, außerdem kann die israelische Regierung keine Berichte über europäische Häfen gebrauchen, die mit hungernden Palästinensern überfüllt sind. Hungernde Nachbarn sind das Letzte, was die Situation in und um Israel beruhigen kann. Das weiß auch die israelische Regierung.