Operation Totschlag

Der türkische Staat bejubelt seinen Sieg über die Gefangenen, während in den Knästen und Krankenhäusern das Sterben weitergeht.

Als wir unser Todesfasten begannen, hatten wir erklärt, dass wir den Sieg mit unseren Märtyrern erringen werden. Nun ist der Tag gekommen. Der Sieg ist nah, eine Frage des Augenblicks. Jetzt werden unsere Helden mit ihrem Martyrium sprechen.« So begann die letzte Wortmeldung der Gefangenorganisation der DHKP/C vor der Erstürmung der Knäste. An die Adresse »des Volkes« hieß es weiter: »Sehr bald werden wir unsere Helden auf eure Schultern legen. Tragt sie hinaus auf die Plätze!« Man sprach von »Sieg« und meinte den Tod - und der ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten.

Tags darauf, am 19. Dezember, dem 60. Tag des Hungerstreiks, stürmten Sondereinheiten von Polizei und Armee zwanzig Gefängnisse. Die bisherige Bilanz: 31 Tote - 29 Inhaftierte und zwei Sicherheitsbeamte -, mindestens acht verschwundene, etliche schwer verletzte oder infolge des Hungerstreiks in akuter Lebensgefahr schwebende Gefangene.

Etwa 250 Gefangene befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Todesfasten, das die guevaristische DHKP/C, die maoistische TKP(ML) und die stalinistische TKIP Mitte Oktober begonnen hatten, um gegen die Einführung der »F-Typ« genanten Isolationsknäste zu protestieren. Rund 1 100 weitere Gefangene, darunter auch Mitglieder anderer linker Gruppen, waren im Hungerstreik.

Gut eine Woche zuvor schien eine Verhandlungslösung noch möglich. Eine Gruppe von Intellektuellen hatte sich als Vermittler eingeschaltet und Gespräche im Gefängnis Istanbul-Bayrampasa geführt. Justizminister Hikmet Sami Türk erklärte darauf, die geplante Verlegung von Gefangenen in die »F-Typ«-Gefängnisse aufzuschieben, bis »ein gesellschaftlicher Konsens über die medizinischen, juristischen und architektonischen Bedingungen« erreicht worden sei.

Angesichts des staatlichen Ziels, die bisherigen großen Gemeinschaftszellen mit bis zu vierzig Insassen durch die für je eine bis drei Personen ausgelegten Zellen zu ersetzen, erschien den Hungerstreikenden diese Absichterklärung als zu vage. Sie forderten den dauerhaften Verzicht auf die Isolationsknäste. Glaubt man dem Journalisten Oral Çalislar, der an den Vermittlungsbemühungen beteiligt war, wäre dennoch eine Lösung möglich gewesen - wenn der Staat eingewilligt hätte, die Zellen in den »F-Typen« auf 18 Personen zu erweitern. Das aber lehnte Türk ab.

Vielleicht wollten auch die gauchistischen Gruppen nicht aufhören, bevor einige »Märtyrer« zu verbuchen waren. Vor allem der DHKP/C, die etwa 1 300 der insgesamt über 2 000 linken Gefangenen stellt, ist ein solches Kalkül zuzutrauen. Nur Gefangene aus der PKK, die sich erst kurz zuvor dem Hungerstreik angeschlossen hatten, brachen »als Zeichen des guten Willens« auf Türks Ankündigung hin ihre Aktion ab.

Lebende Fackeln

Dabei hatte der türkische Staat schon seit langem vor, die Knäste umzustrukturieren und die Gefangenenkollektive zu zerschlagen. Vollmundig berichtete Innenminister Sadettin Tantan später, Sondereinheiten hätten sich seit über einem Jahr auf eine solche Operation vorbereitet. Doch erst mit der Weigerung, den Hungerstreik abzubrechen, bot sich eine scheinbar einwandfreie Legitimation für das staatliche Eingreifen.

In den Tage darauf verdichteten sich die Anzeichen für eine gewaltsame Lösung. Nach einem Angriff von TKP(ML)-Militanten auf einen Polizeibus in Istanbul, bei dem zwei Angehörige der Mobilen Einsatzkräfte erschossen worden waren, kam es landesweit zu Demonstrationen von Polizisten. Vermutlich organisierten Aktivisten der mitregierenden faschistischen MHP diese Aktionen, bei denen ein hartes Vorgehen gegen »die Terroristen« gefordert wurde. Nun wurden Solidaritätskundgebungen attackiert, der Kontakt der Gefangenen zu ihren Anwälten und Angehörigen unterbrochen, Vermittler nicht mehr zugelassen und eine Nachrichtensperre verhängt.

Auf der anderen Seite erklärte die DHKP/C: »Gegen alle Attacken auf unser Todesfasten werden wir die Gefängnisse zu lodernden Fackeln und unsere Körper zu Flammen der Revolution verwandeln. Hunderte Gefangene sind dazu bereit.« Eine propagandistische Steilvorlage, die sich die Spezialisten für psychologische Kriegsführung im Staatsapparat nicht entgehen ließen. »Operation Rückkehr ins Leben« wurde der Angriff getauft, dessen Ziel Ministerpräsident Bülent Ecevit so erläuterte: »Wir wollen die Terroristen vor ihrem eigenen Terror retten.« Daher gehe man »behutsam« vor und versuche, »das Problem so friedlich wie möglich zu lösen«.

Am Fernseher konnte man einen Eindruck davon gewinnen, was der Premier damit meinte: Bagger, die die Außenwände der Gefängnisse zertrümmern, Sicherheitskräfte, die mit Vorschlaghämmern die Zellendächer einschlagen, auf Angehörige, Rechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten einprügelnde Polizisten. Ständig waren im Hintergrund Schüsse zu hören. Und noch Kilometer von den weiträumig abgesperrten Knästen entfernt husteten Reporter wegen der Reizgasschwaden mit geröteten Augen in die Mikrofone.

Bis zum Abend hatten die Sicherheitskräfte außer in zwei Knästen alle verbarrikadierten Zellen gestürmt. Nur in Çanakkale und Istanbul-Ümraniye dauerte der Widerstand zwei bzw. vier Tage an. Als sich in Çanakkale eine Gruppe von Gefangenen ergeben wollte, wurde die Live-Übertragung des Fernsehsenders CNN-Türk abrupt unterbrochen. Später hieß es, auf diese Gefangenen sei aus dem Knast heraus geschossen worden.

Denn nach der regierungsoffiziellen Version haben die Sicherheitskräfte niemanden getötet. Die Toten sind demnach durch Mitgefangene erschossen worden oder haben sich selbst verbrannt. Der einzige Beweis: ein am ersten Tag der Operation über sämtliche Fernsehkanäle verbreiteter angeblicher Mitschnitt eines Telefonats zwischen den Knästen Bartin und Istanbul-Bayrampasa, der im Ruf stand, die Führungskader der Organisationen zu beherbergen. Von dort aus erging angeblich per Handy der Befehl zur Selbstverbrennung. In beiden Knästen habe der Barrikadenbau begonnen. Nach Hintergrundgeräuschen aber lauscht man vergebens. Erstaunlich ist auch die Coolness der Gesprächspartner: Locker wird da über die geplanten Aktionen und Selbstverbrennungen geplaudert.

Und das sind nicht alle Ungereimtheiten. So erklärte der Musiker Zülfü Livaneli, der nicht im Verdacht steht, einer illegalen Organisation anzugehören und der als Mitglied der Vermittlergruppe kurz zuvor Bayrampasa besucht hatte, er wisse aus eigener Erfahrung, dass es unmöglich sei, von Bayrampasa aus per Handy zu telefonieren.

Misshandelte Gefangene

Die türkische Öffentlichkeit aber schert sich nicht um derlei Fragen. Sie glaubt diesen dilettantischen Fälschungen ebenso gerne wie den Behauptungen, dass in Knästen wie Bayrampasa seit 1991 keine Durchsuchungen mehr erfolgt seien und die Gefangenen über Kalaschnikows verfügten, mit denen sie auf die Sicherheitskräfte geschossen hätten. Auch hier gibt es Grund genug, die offiziel-le Darstellung anzuzweifeln. Der lange Zeit für Bayrampasa zuständige Staatsanwalt Necati Özdemir erklärte etwa, dass er in seiner Amtszeit dort regelmäßige Razzien durchgeführt habe. Dabei seien in geringem Umfang selbst gebastelte primitive Waffen gefunden worden.

Zweifel gibt es auch an den Todesumständen des in Ümraniye erschossenen Unteroffiziers Nurretin Kurt. So meldete die in der Türkei erscheinende prokurdische Zeitung Yeni Gündem, dass nach dem Autopsiebericht der Mann von den Kugeln eines G-3-Sturmgewehrs getroffen wurde - der bevorzugten Waffe der Sondereinheiten.

Die vorliegenden Äußerungen von Überlebenden zeichnen ein ganz anderes Bild des »friedlichen Vorgehens«. Eine Frau, die mit versengten Haaren und voller Brandsalbe im Gesicht aus Bayrampasa in ein Krankenhaus geführt wurde, rief den umherstehenden Journalisten zu: »Sie haben uns bei lebendigem Leibe verbrannt. Sechs Frauen sind tot.« Berichten anderer Frauen aus derselben Gemeinschaftszelle zufolge schleuderten Sicherheitskräfte durch die eingeschlagenen Dächer heraus große Mengen von Tränen- und Reizgasbomben sowie Schock- und Blendgranaten in die Zellen. Das Gasgemisch habe Feuer gefangen, während die Sicherheitskräfte ihr Bombardement fortsetzten.

Tatsächlich ist es auch zu einzelnen Selbstverbrennungen gekommen - der Menschenrechtsverein (IHD) spricht von zwei Fällen; die DHKP/C bestätigt dies ebenfalls, ohne Zahlen zu nennen. Die meisten Opfer aber sind nach IHD-Angaben durch Gas, das sich entzündete, verbrannt, wurden erschossen oder erschlagen oder sind erstickt. Auch viele der in Krankenhäuser gebrachten Gefangenen wiesen Schuss- oder Schlagverletzungen auf.

Die Rechtsanwälte Mihbiran Kirdök, Ercan Kanat und Hakan Karakus, die nach den Angriffen mit ihren Mandanten hatten reden können, berichteten, dass diese nach ihrer Verlegung gefoltert, geschlagen, mit Knüppeln vergewaltigt und erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt worden seien. So seien manche Gefangene beim Transport von Offizieren bepinkelt worden. Auch andere Quellen berichten von Misshandlungen an den Gefangenen.

Mittlerweile befinden sich noch etwa 300 Gefangene im Krankenhaus, andere wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt und dort zumeist in die Arrestzellen gesteckt. Zudem wurden 1 005 Gefangene in die bereits fertig gestellten F-Typ-Knäste Edirne, Sincan und Kocaeli überführt. An sein gerade mal eine Woche altes Versprechen erinnert, erklärte Justizminister Türk lapidar: »Die alten Haftanstalten sind zerstört, deswegen mussten wir vorzeitig die F-Typen beziehen.«

Brutaler als die Militärjunta

Damit hat der Staat sein wichtigstes Ziel erreicht. »Wir haben die Herrschaft über die Gefängnisse wiedererlangt«, frohlockte Innenminister Tantan. Premier Ecevit behauptete gar, der Widerstand der Häftlinge habe die Notwendigkeit der neuen Gefängnisse demonstriert. Der öffentliche Beifall ist groß. »Eine Schande für den Staat ist bereinigt« titelte die konservative Hürriyet und die liberale Yeni Binyil bejubelte die neuen Knäste als »EU-Typ-Gefängnisse«.

Wenn es gelingt, auch nach außen die Isolationsknäste als »modernen Strafvollzug« zu verkaufen - und daran ist kein Zweifel -, dürfte Ankara einen guten Teil seines Knastproblems gelöst haben: keine Beschwerden mehr aus dem Ausland, keine Organisierung der Gefangenen. Und um in eine Einzelzelle einzudringen, braucht man nun wirklich keine Armada von Polizei und Militär.

Verschoben ist allein die Entscheidung über den weiteren Umgang mit den 9 000 PKK-Gefangenen, von denen viele in Knästen wie Diyerbakir und Gaziantep sitzen. Sowohl aus praktischen wie taktischen Gründen verzichtete die Regierung darauf, sie in die geplante Verlegung mit einzubeiziehen.

Für die gesamte Linke aber ist dies der verheerendste Schlag seit dem Militärputsch von 1980. Eine strategische Niederlage, weil die sozialen und politischen Strukturen im Knast zerstört sind und künftig die Gefangenen im Knast ebenso wehrlos Folter und Vergewaltigungen ausgesetzt sein werden wie im Polizeigewahrsam. Eine politische Niederlage, weil selbst die Militärjunta ein derart rabiates Vorgehen gescheut hatte. Beim Hungerstreik 1984 gab es vier, beim Streik von 1996 zwölf Tote. In beiden Fällen konnten die geplanten Isolationsmaßnahmen verhindert werden.

Dass es diesmal ungleich brutaler zuging und am Ende der Staat einen aus seiner Sicht dauerhaften Erfolg erzielen konnte, ist nicht allein mit der Regierungsbeteiligung der MHP zu erklären. Vielmehr sind die zwanzig Prozent der Stimmen, die die Faschisten auf die Regierungsbänke brachten, ebenso wie der Wahlerfolg von Ecevits nationalistischen DSP, ein Ausdruck davon, dass sich weite Teile der Bevölkerung mit der Staatsideologie identifizieren. Deswegen konnte der Staat mit ein paar einfachen Propagandatricks, aber ohne nennenswerte Legitimationsprobleme agieren.

Hingegen verirrten sich auf den vergleichsweise spärlichen Protestaktionen, die legale linke und kurdische Organisationen, Menschenrechtsvereine und Gewerkschaften organisierten, zumeist nur wenige Hundert Leute. Die meisten Kundgebungen wurden von der Polizei gewaltsam aufgelöst, viele Demonstranten festgenommen. In verschiedenen Städten wurden Büros linker Organisationen von Sicherheitskräften gestürmt. Aber: Nicht weil die Repression stark ist, gibt es wenig Protest, sondern weil die Proteste so marginal sind, ist die Repression so ungezügelt.

Berauscht vom eigenen Erfolg und beflügelt von so wenig öffentlicher Gegenwehr, erklärte Justizminister Türk letzte Woche, dass sich Menschenrechtsgruppen, Ärztekammer und andere Kritiker durch ihre Unterstützung einer »inhumanen Aktion« - gemeint war der Hungerstreik - schuldig gemacht hätten. Auf die Erstürmung der Knäste könnte noch härteres staatliches Vorgehen gegen die gesamte Linke und ihre legalen Strukturen folgen. Innerhalb des Landes jedenfalls gibt es keine Kräfte, die einer solchen Offensive nennenswerten Widerstand entgegensetzen könnten. Auch liberale Kräfte geraten ins Visier. So leitete die Staatsanwaltschaft am Staatssicherheitsgericht Istanbul ein Ermittlungsverfahren gegen die Tageszeitung Radikal ein, weil sie »mehr als nötig« über den Hungerstreik berichtet und dadurch »terroristische Propaganda« verbreitet habe.

Dabei ist der Knastkonflikt noch nicht beendet. Nunmehr befinden sich alle 2 000 linken Gefangenen im Hungerstreik - manche von ihnen seit mittlerweile mehr als 70 Tagen. Eine von ihnen, Berrin Biçkilar, wurde letzte Woche nach 67 Tagen bei der Durchsetzung von Zwangsernährung getötet. Sie war 22 Jahre alt und seit ihrem 17. Lebensjahr inhaftiert. Drei Tage später starb der Hätfting Hasan Güngörmez im Gefängnis in Cankiri an den Folgen des Streiks.

Unterdessen begann eine andere Art von Knasträumung. Im Zuge eines Straferlasses wurden letzte Woche die ersten Häftlinge vorzeitig entlassen. Zwar bleiben die politischen Gefangenen ausgeklammert, dafür dürfen sich rund 35 000 Inhaftierte, darunter Mafiosi und faschistische Killer, auf ihre baldige Freiheit freuen. Und der Platz wird gebraucht. Noch während die Angriffe liefen, bestätigte das Berufungsgericht die Strafen gegen eine Gruppe von Jugendlichen - die meisten von ihnen um die 18 Jahre alt. Sie hatten bei einer Protestaktion in Izmir ein Parteibüro besetzt. Das Urteil: Zwischen fünf und zwölf Jahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Es ist immer noch der Staat, der die Märtyrer produziert.