Alle Fenster offen

Jüdische Organisationen bereichern sich an maßlosen Entschädigungszahlungen, behauptet Norman Finkelstein. Er spricht damit den Deutschen aus der Seele.

Genug gezahlt. Jüdische Organisationen stellen maßlos übertriebene Forderungen nach Entschädigung, behauptet Norman Finkelstein. Mit dieser Aussage wird er in Deutschland zum Medienstar. Einer Umfrage des Emnid-Instituts zufolge, die vergangene Woche vom Spiegel in Auftrag gegeben wurde, teilen fast zwei Drittel aller Deutschen die Ansicht des US-Politologen. Nur 24 Prozent halten seine Behauptungen für falsch, in der Gruppe der 25 bis 29jährigen sind es sogar nur 17 Prozent.

Auch in der mit 900 Besuchern völlig überfüllten Berliner Bildungsstätte »Urania«, wo die deutsche Übersetzung seines Buches »The Holocaust Industry« vorgestellt wurde, bekam der US-amerikanische Verschwörungstheoretiker am vergangenen Mittwoch viel Applaus. Der World Jewish Congress (WJC) und die Jewish Claims Conference (JCC) bereicherten sich auf Kosten der Holocaust-Überlebenden und der europäischen Regierungen. Die industrielle Vernichtung der europäischen Juden ist seiner Meinung nach kein singuläres Ereignis in der Geschichte. Vielmehr behaupteten die jüdischen Organisationen dies nur, um ihre finanziellen Forderungen besser durchzusetzen. »Die Abnormalität des Holocaust rührt nicht von diesem Ereignis, sondern von der Ausbeutungsindustrie, die darum herum entstanden ist«, schreibt Finkelstein.

Nicht nur die zahlreich anwesenden Rechtsradikalen sahen sich in ihrem Wissen um die jüdische Weltverschwörung bestätigt. Auch das bürgerliche Publikum klatschte begeistert Beifall.

Erst als einige Gegner Finkelsteins Transparente mit der Aufschrift »Deutsche Täter sind keine Opfer« und »Holocaust-Industrie: Siemens, Deutsche Bank, IG Farben ...« entrollten, änderte sich die Stimmung. Einige Männer skandierten Nazi-Parolen, ein kurzes Handgemenge folgte. »Das ist Ihr Publikum, Herr Finkelstein«, rief eine Besucherin. Kurz darauf brach der Moderator Johannes Willms von der Süddeutschen Zeitung die Podiumsrunde ab.

In Zürich und Wien, den beiden anderen Stationen seiner Buchvorstellung, waren die Veranstaltungen ebenfalls ausverkauft. Dort verschärfte Finkelstein seine Vorwürfe gegen die jüdischen Organisationen sogar. In Zürich bezeichnete er am vergangenen Donnerstag den Streit um nachrichtenlose Vermögen von Nazi-Opfern auf Schweizer Banken als »Piraterie nach Holocaust-Beute« und beschimpfte Edgar Bronfman, den Präsidenten des WJC. »Bronfman benimmt sich wie der jüdische König des Gettos von Lodz, der mit den Nazi-Besetzern kooperiert und die Juden am Altar opfert«, sagte Finkelstein, obwohl ihm die Problematik historischer Vergleiche bewusst sei.

In Österreich erklärte er einen Tag später, der Bevollmächtigte des WJC bei den Entschädigungsverhandlungen, Stuart Eizenstat, habe »Österreich erpresst, indem dem Land nach dem Regierungswechsel ein weltweiter Boykott wegen Jörg Haider angedroht wurde«. In Wien setzte sich das Publikum vor allem aus deutschnationalen Burschenschaftern und FPÖ-Anhängern zusammen. Als Finkelstein-Gegner protestierten, tönte es aus dem Publikum: »Das könnt's nur machen, solang der Haider noch net Bundeskanzler ist.«

Die deutsche Industrie und die Schweizer Banken können sich freuen. Für sie kommt Finkelstein zur rechten Zeit. Mit ihrer Forderung nach absoluter Rechtssicherheit hat die deutsche Wirtschaft vergangene Woche den Verhandlungen über eine Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter eine endgültige Absage erteilt, sagte selbst der Bundesbeauftragte Otto Graf Lambsdorff. Finkelstein bestätigte hingegen den Deutschen ein einwandfreies Verhalten. Während die USA ihrer historischen Verbrechen wie der Ermordung der Indianer oder der Sklaverei kaum gedenke, habe sich Deutschland bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen vorbildlich verhalten. Doch dies werde von den jüdischen Organisationen nur ausgenützt. »Es liegt an den Deutschen. Sollen diese Holocaust-Profiteure sie weiter ausrauben?« fragte Finkelstein.

Aber nicht nur die Forderungen nach Entschädigung sind nach Meinung Finkelsteins maßlos übertrieben. Der World Jewish Congress soll auch noch verantwortlich sein für den wachsenden Antisemitismus in den deutschsprachigen Ländern: »Mit ihren skrupellosen, gemeinen Erpressungsaktionen sind diese jüdischen Organisationen die wichtigsten Förderer des Antisemitismus.«

Dass er seine Unterstellungen nicht beweisen kann, stört ihn und seine Anhänger am wenigsten. In Zürich konnte er auf Nachfrage kein einziges Beispiel dafür angeben, wer Entschädigungszahlungen abgezweigt habe. In seinen Reden kommt es auf solche Details auch gar nicht an. Denn Finkelstein, der sich selbst als linker Kapitalismuskritiker versteht und in den sechziger Jahren bei Noam Chomsky studierte, sieht eine globale Verschwörung am Werk. Seiner Ansicht nach »entdeckten« die jüdischen Eliten den Holocaust erst nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 als moralisches Druckmittel, um den europäischen Regierungen Geld abzupressen. Mit Hilfe dieser Zahlungen sollte die arabische Welt angeblich einem US-israelischen Kartell unterworfen werden.

Unterstützt werde der WJC bei diesem Vorhaben von der einflussreichen jüdischen Lobby in den US-amerikanischen Medien und in der Politik. Diese Lobby macht Finkelstein auch dafür verantwortlich, dass seine »Enthüllungen« über den WJC in den USA unterdrückt worden seien. Bisher seien lediglich drei Rezensionen erschienen, die New York Times habe sein Buch in der Luft zerrissen. In New York hätte die Pressekonferenz zu seinem Buch in einer Telefonzelle stattfinden können, sagte Finkelstein vergangenen Mittwoch in Berlin.

In Deutschland hingegen ist die Medienresonanz überwältigend. Zur Pressekonferenz erschienen fast 200 Journalisten, die Veranstaltung in der »Urania« wurde im Fernsehen und im Radio übertragen und anschließend durfte er im ZDF-Nachtstudio noch einmal seine Behauptungen präsentieren. Innerhalb weniger Tage erschienen über hundert Artikel über Finkelstein. »Es ist, als würde plötzlich ein Fenster geöffnet«, kommentierte die FAZ begeistert. Der Piper-Verlag startet nun die deutsche Erstausgabe mit einer Auflage von 50 000 Exemplaren. Um den Absatz wird er sich nicht sorgen müssen.

Schon seit einiger Zeit drängen Publikationen der extremen Rechten wie die Junge Freiheit auf eine Übersetzung des Buches. Bürgerliche Antisemiten fühlen sich ebenfalls bestätigt und verweisen auf die Herkunft des Autors. »Finkelstein, selbst Jude«, schreibt etwa die Neue Revue in ihrem Artikel über die »Schindluderliste« der vorgeblich geldgierigen jüdischen Organisationen.

Auch der vulgärmarxistischen Linken gefallen seine Ansichten. Seine Verschwörungstheorie von den jüdischen Kapitalisten, die ihr eigenes Volk ausbeuten und dabei dem US-amerikanischen und israelischen Imperialismus in die Hände arbeiten, kann sich auf linke Tradition berufen. In den siebziger und achtziger Jahren wetterten Linke immer wieder gegen jüdische »Spekulanten« und »Kapitalisten« wie etwa Ignatz Bubis. Und auch die Agitation gegen das zionistische Israel gehörte seit Ende der sechziger Jahre zum Repertoire der radikalen Linken.

Die Liberalen hingegen kommen mit Finkelsteins Popularität nur schwer zurecht. Zwar weisen bekannte Historiker wie Ulrich Herbert, Hans Mommsen oder Wolfgang Benz in der Süddeutschen Zeitung Finkelsteins Behauptungen in der Sache zurück. Doch gleichzeitig fordert die SZ eine »fachliche Auseinandersetzung« mit wahnhaften Behauptungen und verlangt die Zeit »Souveränität« im Umgang mit Finkelstein, um seine antisemitischen »Einwände« zu überpüfen.

Wie wenig Widerstand er von dieser Seite zu erwarten hat, zeigte sich bereits bei der Veranstaltung in der Berliner »Urania«. Nach anfänglicher Kritik lobten die als Kontrahenten eingeladenden Podiumsteilnehmer Peter Steinbach und Rafael Seligmann den »Mut«, den Finkelstein mit seinem Buch bewiesen habe, und begrüßten ausdrücklich dessen Veröffentlichung. Man müsse schließlich über alles reden können. Die Fenster sind geöffnet.