Währungs- und Regierungskrise

Freies Floaten

Die Regierungs- und Wirtschaftskrise in der Türkei begünstigt die autoritäre Formierung von Staat und Gesellschaft.

Demokratie ist lustig«, ließ Joseph Beuys einst auf Postkarten drucken. Was auf den eher behäbigen Bonner Parlamentsbetrieb gemünzt war, gilt umso mehr für die türkische Demokratie. Wenige Wochen ist es erst her, dass bei einer der regelmäßig stattfindenden Saalschlägereien im Parlament zwei Abgeordnete der mitregierenden faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) den Oppositionsabgeordneten Mehmet Fevzi Sihanoglu von der konservativen Partei des Rechten Weges (DYP) so verprügelten, dass er an einer Herzattacke starb.

Das eigentliche Machtzentrum hingegen, der Nationale Sicherheitsrat (MGK), konnte bislang nicht mit dem Unterhaltungswert der Volksvertretung konkurrieren. Dieses von der Militärjunta geschaffene Gremium, dem neben den obersten Generälen der Staatspräsident, der Regierungschef und weitere Kabinettsmitglieder angehören, tagte hinter verschlossenen Türen, und außer den Kommuniqués, in denen die politischen Leitlinien verkündet wurden, drang nur selten etwas an die Öffentlichkeit.

Am Montag vergangener Woche warf Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer zu Beginn der monatlichen MGK-Sitzung der Regierung mangelnde Bereitschaft zur Korruptionsbekämpfung vor und kündigte an, eine ihm rechenschaftspflichtige Kontrollkommission einzurichten. Als Kabinettsmitglieder ihm das Recht dazu absprachen, fauchte er: »Ich versuche, die Korruption zu bekämpfen, und Sie behindern mich dabei. Ich bin der Staatspräsident, ich habe alle Rechte. Sie kennen die Verfassung nicht.« Hüsamettin Özkan, der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, konterte: »Diese Verfassung will ich sehen.« Daraufhin warf ihm Sezer die Verfassung entgegen. Özkan warf das Buch zurück und bezichtigte den im Mai letzten Jahres mit den Stimmen der Regierungskoalition gewählten Sezer der Undankbarkeit: »Vergessen Sie nicht, wer Sie in dieses Amt befördert hat.« Schließlich verhinderte Ecevit eine handfeste Kraftprobe der Verfassungsorgane, indem er und sein Gefolge den Sitzungssaal verließen.

Nach einer im Anschluss einberufenen Dringlichkeitssitzung des Kabinetts sprach Ecevit von einer »schweren Krise«. In einem Schlagabtausch über die Medien lehnten er und Sezer einen Rücktritt ab; eine rechtliche Möglichkeit, einander abzusetzen, haben sie nicht. Daraufhin fielen die Aktienwerte innerhalb eines Tages um etwa 14 Prozent. Am Mittwoch erklärte Ecevit, zwischen ihm und Sezer gebe es »ernsthafte politische Meinungsverschiedenheiten«. Der Aktienindex IMKB-100 verzeichnete den größten Tageseinbruch seiner Geschichte und fiel um weitere 18 Prozent, die Zentralbank setzte ein Fünftel ihrer Devisenreserven ein, um die erst im Dezember eingeführte Bindung der Lira an den US-Dollar und den Euro aufrechtzuerhalten. Noch in der Nacht gab die Regierung bekannt, die Lira frei floaten zu lassen. Das Ergebnis war ein Wertverlust von rund 36 Prozent in zwei Tagen.

Gerade zwei Monate ist es her, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Kredit über 11,4 Milliarden Dollar einsprang. Seine Hilfe hatte der IWF an ein Stabilitätsprogramm gebunden, das neben schnelleren Privatisierungen und einer restriktiven Haushaltspolitik die Inflationseindämmung durch die feste Devisenkoppelung vorsah. Während sich die Regierung von der Währungsabwertung höhere Einnahmen aus Export und Tourismus erhofft, wird die Verteuerung der Importe die Inflation in die Höhe treiben.

Mit dem Fall der Lira drohen verschuldeten Banken und Unternehmen, aber auch vielen privaten Haushalten, Zahlungsschwierigkeiten. Auch dem Staat drohen Probleme bei der Tilgung seiner Auslandsschulden. Aber in Ankara vertraut man auf die Unterstützung aus Washington. Denn die geostrategische Bedeutung des Landes als wichtiger Bündnispartner zwischen den Krisenregionen Balkan, Nahost und Kaukasus hatten in der Vergangenheit vor allem die USA stets dazu bewogen, ihren Einfluss im IWF walten zu lassen und das Land mit großzügigen Krediten zu versorgen. Auch jetzt sicherte US-Präsident George W. Bush der türkischen Regierung seine Unterstützung zu, ebenso wie IWF-Chef Horst Köhler, der allerdings daran erinnerte, dass die Türkei weiter an das vereinbarte Wirtschaftsprogramm gebunden sei.

IWF-Sprecherin Conny Lotze kündigte an, eine Delegation in die Türkei zu entsenden, um zu prüfen, ob und welche Veränderungen an dem Kreditprogramm vorgenommen werden müssten. Neben noch drastischeren Haushaltseinsparungen dürfte der IWF eine schnellere Privatisierung lukrativer Staatsbetriebe wie der türkischen Telekom oder der Fluggesellschaft Turkish Airlines fordern. Ecevit hat umfangreiche wirtschaftpolitische Maßnahmen angekündigt.

Im Januar 1980 hatte Ankara schon einmal in einer vergleichbar dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise eine radikale IWF-Kur beschlossen. Am 12. September 1980 wurden dann die politischen und sozialen Rahmenbedingungen geschaffen: Das Militär putschte, löste das Parlament auf und zerschlug die starke sozialistische Bewegung und die Gewerkschaften. Heute existiert keine Kraft, die sich den Vorgaben des IWF und der Militärs versperren könnte. Die Gewerkschaften sind - trotz eines gewissen Mobilisierungspotenzials - schwach und staatstragend, die PKK hat kapituliert und die Islamisten sind außer Gefecht gesetzt. Die politische Klasse selbst bildet wegen mafiöser Verstrickungen, Korruption und Zersplitterung das größte Hindernis für den IWF. Bereits im Dezember wurde aus Armeekreisen bekannt, dass die Generalität Maßnahmen gegen die Korruption vor allem bei den staatlich kontrollierten Banken vorbereitet, die im Zentrum des Klientelsystems stehen. Dies verdeutlichte die Spannungen zwischen der Militärführung und der politischen Klasse. So ist anzunehmen, dass Sezers Auftreten im MGK mit dem Militär abgestimmt war.

Die jetzige Regierung amtiert seit 21 Monaten, länger als alle Vorgänger in den letzten fünf Jahren. Nun aber fordern Medien, Gewerkschaften und Unternehmensverbände ihren Rücktritt. Allerdings gibt es in der politischen Klasse des Landes keine Kraft, die nicht unter Korruptionsverdacht stünde. Dass ausgerechnet die notorisch skandalträchtige DYP-Chefin Tansu Çiller Neuwahlen fordert, hat zwar einen gewissen dreisten Charme, es nacht sie aber nicht zu einer ernsthaften Alternative. Allein der mit dem Image des überparteilichen Saubermannes auftretende Sezer hat von diesem Konflikt profitiert.

Am Tag nach dem Eklat leitete die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara ein Verbotsverfahren gegen den Menschenrechtsverein (IHD) wegen dessen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Erstürmung der Gefängnisse ein. (Jungle World, 2/01) Die zeitliche Übereinstimmung mag Zufall gewesen sein. Aber ebenso wie der Angriff auf die Gefängnisse selbst fügt sich diese Meldung in ein Gesamtbild - in die Tendenz zur autoritären Formierung von Staat und Gesellschaft.

Am Ende dieses Konflikts könnte eine - durch mehr oder weniger offenes Eingreifen des Militärs bewirkte - Umstrukturierung des politischen Systems stehen. Eine Junta ist nicht zu befürchten, eher ein autoritäres Präsidialsystem, das von der Armee und einer korporatistisch-nationalistischen Stimmung getragen wird. An die üblichen Spielregeln hat sich die türkische Demokratie nie gehalten und so ihr sympathisches Element bewahrt: die Unterhaltsamkeit.