Grüne Grundwerte-Debatte

Gewaltige Ideen

Den Einstieg lieferte ein Habermas-Schüler. Natur, Zivilgesellschaft, Bürgerrechte, erklärte Axel Honneth den grünen Delegierten, seien die drei normativen Grundbegriffe, an denen sich ihre Partei einst orientiert habe. Heute aber ist für den Sozialwissenschaftler alles anders. So bleibe beispielsweise der zivilgesellschaftliche Bezug auf das Engagement des mündigen Bürgers eine Fiktion, wenn die sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen nicht gewährleistet seien.

»Jedem Pro steht ein Kontra gegenüber«, konstatierte Honneth in Stuttgart. Angesichts der »neuen Unübersichtlichkeit« stellt er ein »gespenstisches Verschwinden von Großdemonstrationen und sozialen Bewegungen« fest. Seine Konsequenz für eine glückliche grüne Zukunft: Die alten Essentials müssen auf höherem Niveau reflektiert und miteinander verknüpft werden. Nur so könne die Partei ihre derzeitige Identitätskrise in den Griff bekommen. Es gelte, soziale Gerechtigkeit und größtmögliche Autonomie des Menschen miteinander zu verbinden. Das Ziel sei Individuelles Wohlbefinden in einer zukunftssicheren Welt. Den am schlechtesten Gestellten in Deutschland, konkret den Asylsuchenden, müssten die Ökos mehr Gehör verschaffen.

In der Tat ist die Welt komplizierter geworden. Die Sozialdemokraten konnten zu ihren Hochzeiten noch die eindeutig bipolaren Klassenverhältnisse ins Zentrum ihrer Agitation stellen. Die Grünen aber müssen ihre Basis in einer komplexeren gesellschaftlichen Struktur suchen. Konservative Bauern aus dem bayerischen Wald und verarmte Alleinerziehende aus Berlin-Kreuzberg gehören genauso dazu wie Computerfreaks aus dem Max-Planck-Institut.

Doch an Honneths Erkenntnissen ist im Wesentlichen, sieht man von der geringen Mobilisierungsfähigkeit sozialer Bewegungen ab, nichts wirklich neu, seit der Öko-Wahlverein vor über 20 Jahren gegründet wurde. Die Partei entstand in einer Situation, in der gesellschaftliche Alternativen angesichts der wenig erfreulichen Berichte über das Leben in den sozialistischen Staaten fehlten. Sie entwickelte sich aus einer Bewegung, in der alternative Bauherren, selbstkritische Klassenkämpfer und anarchistische Moralisten ganz selbstverständlich Hand in Hand auf die Straße gingen.

Von den ehedem Bewegten sind bekannterweise, von vereinzelten Nostalgikern abgesehen, nur ökologische Modernisierer übrig geblieben. Warum also lassen nun grüne Strategen ausgerechnet alte Thesen reanimieren, wenn man doch »neue Grundwerte« diskutieren will? Die Antwort liegt nahe und ist identisch mit dem Grund für die Zustimmung, die Claudia Roth als neue Vorsitzende bekam: Da sich die Grünen als Bürgerrechtspartei nicht durchsetzen konnten, gilt es nun um so mehr, entsprechende Positionen in den Vordergrund zu stellen. Denn auch wenn die meisten Aktiven der Straße »ihrer« Partei längst den Rücken gekehrt haben, bleibt die Inszenierung als Bewegungspartei unentbehrlich. Noch immer, so haben Umfragen bestätigt, lassen sich mit dem Glamour des Rebellischen mehr Stimmen gewinnen als mit wirtschaftsliberalen Ansätzen. Dass sich die Partei faktisch zur Öko-FDP entwickelt hat, geht in diesem Befindlichkeitsdiskurs um grüne Werte unter. Ebenso wie die Tatsache, dass nur die knappe Hälfte der Delegierten in Stuttgart für die Wiedereinführung des alten Asylrechts stimmte.

Immerhin, mit der einst angepriesenen Gewaltfreiheit gaben sich die Grünen mehr Mühe als der angeheuerte Sozialwissenschaftler Honneth. »Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik«, heißt es in einem der sechs »Diskussionspapiere für ein neues Grundsatzprogramm«. Diese Leitlinie müsse, so schreiben die grünen Autoren, »in außen- und sicherheitspolitisches Handeln übersetzt werden, das einer Zivilisierung, Entmilitarisierung, Abrüstung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen dient«.

Honneth wandte dagegen ein, die Grünen müssten an der Idee der Gewaltfreiheit als einem »nicht in jedem Fall umsetzbaren Ziel festhalten«. Wie das funktioniert, hat man im Außenministerium längst vorgemacht.