Sozialpolitik der Bundesregierung

Alle werden Unternehmer

39 Jahre Rheinischer Kapitalismus waren genug: Seitdem Rot-Grün in Berlin regiert, hat die unter CDU und FDP eingeleitete Umverteilung nach oben eine neue Qualität bekommen.

Nicht zuletzt aus Unmut über ihre Umverteilungspolitik zugunsten der höheren Einkommensklassen wurde die CDU/FDP-Regierung 1998 abgewählt. Von »sozialer Schieflage« und »Gerechtigkeitslücken« sprachen im Wahlkampf vor allem die damaligen Oppositionsparteien.

Rot-Grün aber setzte nach dem Amtsantritt diese Umverteilungspolitik fort, wenn auch garniert mit kosmetischen Veränderungen wie der Erhöhung des Kindergeldes. So werden mit der im letzten Jahr verabschiedeten Steuerreform, wie schon unter der Vorgängerregierung, vor allem die oberen Einkommensklassen sowie Großunternehmen entlastet. Hier waren es besonders die Grünen, die im Bündnis mit der FDP eine noch stärkere Senkung des Spitzensteuersatzes verlangten. Dass die Reichen noch reicher werden müssen, damit es allen irgendwann einmal besser geht - diese Weisheit ist auch den Grünen nicht mehr fremd.

Doch während diese Art der Umverteilung noch auf ein gewisses öffentliches Interesse stieß, wurde ein anderer Aspekt kaum mehr wahrgenommen. Die Senkung der direkten Steuern bringt nicht nur die immer wiederkehrenden, vermeintlichen staatlichen Sparzwänge mit sich, sondern ebenso eine Tendenz zur Erhöhung der indirekten Steuern. Nicht von ungefähr beharrt Rot-Grün trotz der Kampagnen der Union auf der Fortführung der neu eingeführten Ökosteuer; eine Erhöhung der Mehrwertsteuer dürfte im Rahmen der europäischen Vereinheitlichung der Steuerpolitik ebenfalls bald anstehen.

Im Gegensatz zu den direkten Steuern, die vom Einkommen abgezogen werden und immerhin noch teilweise eine Progression aufweisen - Empfänger höherer Einkommen zahlen prozentual mehr Steuern, selbst wenn ihnen mehr Abschreibungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen -, sind die indirekten Steuern, wie etwa die Mehrwert- oder die Mineralölsteuer, für alle gleich. Tatsächlich entfällt hier aber nicht nur die Progression, die Besserverdiendenden werden durch indirekte Steuern sogar begünstigt.

Denn während ein niedrigeres Einkommen in der Regel vollständig für den Lebensunterhalt verwendet wird, sodass davon auch jede Menge Mehrwert-, Mineralöl-, Öko- oder Tabaksteuer abfließt, kann von einem hohen Einkommen viel gespart oder angelegt werden, ohne dass Steuern fällig würden. Da die Vielverdiener darüber hinaus nicht ihr ganzes Einkommen für Konsumgüter aufwenden müssen, fallen die indirekten Steuer prozentual weniger ins Gewicht, was eine umgekehrte Progression zur Folge hat.

Private Vorsorge

Doch nicht nur in der Steuerpolitik, auch im Bereich der Sozialversicherungen setzt Rot-Grün auf Umverteilung. Wurden die Beiträge vor der Einführung der Pflegeversicherung unter Helmut Kohl noch paritätisch finanziert, d.h. zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sorgt Rot-Grün für die konsequente Fortsetzung des schwarz-gelben Systembruchs. Mit der Streichung eines Feiertages zur Finanzierung der Pflegeversicherung war schließlich ein Modell geschaffen worden, das die anhaltende Kritik an den steigenden Lohnnebenkosten mit weiteren pragmatischen Maßnahmen beantwortete.

So gilt Rot-Grün die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge - der dickste Brocken unter den Sozialversicherungsbeiträgen - als unzumutbar, jedoch nur für die Unternehmen, keineswegs aber für die Beschäftigten. Im Moment beläuft sich dieser Beitrag auf 19,1 Prozent des Bruttolohns, der je zur Hälfte von Beschäftigten und Unternehmen getragen wird. Auf mehr als 20 Prozent, allenfalls auf 22 Prozent ab 2020, dürfte er auf keinen Fall steigen, heißt es in Berlin. Allerdings ist allen Beteiligten klar, dass mit diesen Beiträgen eine Altersversorgung in der jetzigen Höhe nicht finanziert werden kann. Geplant ist daher eine deutliche Absenkung des Rentenniveaus. Damit das Alterseinkommen trotzdem nicht unter den Sozialhilfesatz fällt, sollen die Beschäftigten eben privat vorsorgen: Bis zu vier Prozent Sparanteil am Bruttoverdienst könnte man den Arbeitnehmern zumuten, so die Logik von Rot-Grün. Unter dem Strich blieben den Unternehmen also maximal elf Prozent Anteil an den Rentenversicherungsbeiträgen, während die Beschäftigten ohne weiteres 15 Prozent berappen dürften.

»Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser«, hatte die SPD im Bundestagswahlkampf 1998 plakatiert. Dass sie manches besser macht, glauben vor allem die Gewerkschaften. Hatten sie die Rentenreformpläne der CDU / FDP-Regierung noch vehement abgelehnt, sind sie im Bündnis für Arbeit jetzt fest an die Regierung gebunden.

Sozialstaat, warum?

Vielen Linken gilt der Sozialstaat nach wie vor als Errungenschaft der Arbeiterbewegung im Kampf gegen das Kapital. In den Debatten um den Sozialstaat scheint die Rollenverteilung fest vorgegeben zu sein: Die Konservativen wollen ihn abbauen, Sozialdemokraten und Grüne wollen ihn - im Prinzip - erhalten. Dabei sollte schon ein kurzer Blick in die Geschichte jeden stutzig machen. Nicht nur wurde die Sozialversicherung in Deutschland von dem Erzreaktionär Bismarck eingeführt, um der sich damals noch revolutionär gebärdenden Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Auch in der Bundesrepublik waren es während des so genannten Wirtschaftswunders in den fünfziger und sechziger Jahre zunächst CDU-Regierungen, die sozialstaatliche Leistungen beträchtlich ausbauten. Den bis heute heftigsten Sozialabbau gab es erst in der Folge der Wirtschaftskrise von 1974/75 unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt.

Zwar wirken sich sozialstaatliche Sicherungen für Einzelne, die krank oder arbeitslos werden, durchaus positiv aus, doch ein Bollwerk gegen das Kapital ist der Sozialstaat deshalb noch lange nicht. Selbst als Beitrag zur Existenzsicherung taugt er nur, solange man sich dem Zwang zur Lohnarbeit unterwirft. Eine Reihe von Leistungen - Arbeitslosengeld, Krankengeld, gesetzliche Rente - hängen direkt vom früheren Lohneinkommen ab. Der Bezug von Arbeitslosengeld wie auch von Sozialhilfe ist direkt mit dem Zwang verbunden, seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und dabei immer schlechtere Bedingungen zu akzeptieren.

Sozialhilfeempfänger unterliegen sogar einem unmittelbaren Arbeitszwang. Sie können zu so genannter gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden, was mit drei Mark pro Stunde vergütet wird. Wer solche Arbeiten verweigert oder angeblich zumutbare Lohnarbeit ablehnt, dem werden die Zuwendungen gekürzt oder zeitweise ganz gesperrt. Von der »modernen« Sozialdemokratie wird gerade diese repressive Seite des Sozialstaats ideologisch überhöht. Tony Blair und Gerhard Schröder forderten 1999 in ihrem gemeinsamen Papier einen »aktivierenden Staat«, das soziale Netz dürfe keine »Hängematte« sein, es müsse zum »Trampolin« werden.

Der Sozialstaat hilft aber nicht nur, die industrielle Reservearmee dem Kapital gefügig zu halten, er bildet darüber hinaus ein wichtiges Stabilisierungselement der Konjunktur. Sozialstaatliche Leistungen verhindern, dass in Krisenphasen die Massenkaufkraft allzu stark nachlässt, was die Krise noch weiter verschärfen würde. Darüberhinaus sind viele sozialstaatlich finanzierte Bereiche inzwischen zu attraktiven Anlagesphären von Kapital geworden - wie die Pharmazie oder die Medizintechnik.

Der von Linken oft beschworene umfassende Abbau des Sozialstaats wäre für entwickelte kapitalistische Länder daher dysfunktional. In den vielen Krisen geht es nicht einfach um Abbau, sondern um die Frage, wie die sozialstaatlichen Leistungen mit den aktuellen Bedingungen der Kapitalakkumulation in Einklang zu bringen sind. Dabei ist nicht allein die Quantität dieser Leistungen entscheidend, sondern auch die qualitative Frage, welche Leistungen überhaupt erbracht und in welcher Weise sie finanziert werden. Und im Moment geht es um eine grundlegende qualitative Veränderung des Sozialstaats.

Neuer Kapitalismus, neuer Sozialstaat

Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte die fordistische Phase des Kapitalismus für einen lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung in den kapitalistischen Metropolen. Steigende Reallöhne und der Ausbau sozialstaatlicher Leistungen kennzeichneten nicht nur das westdeutsche »Wirtschaftswunder«. Mit der Krise dieses Modells in den Siebzigern setzten sich in der Weltwirtschaft neue Strukturen durch. Das internationale Finanzsystem wurde weitgehend dereguliert, die internationalisierten Finanzmärkte bildeten danach die Grundlage für die Globalisierungsprozesse der achtziger und neunziger Jahre. Es entstand ein kapitalistisches Weltsystem, das in vielen Aspekten nicht nur in höherem Grade integriert, sondern auch weitaus abhängiger von den internationalen Finanzmärkten ist. Geschützte oder politisch moderierte Räume, wie sie für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg typisch waren, stehen den Kapitalgebern kaum noch zur Verfügung. Die Konkurrenz hat sich in den letzten 20 Jahren erheblich verschärft, nicht zuletzt durch die Zunahme von Fusionen oder feindlichen Übernahmen.

Diese Prozesse haben zu einem erhöhten Druck auf die Beschäftigten geführt. Von den Lohnabhängigen wird mehr Flexibilität verlangt, während gleichzeitig übertarifliche Leistungen abgebaut werden und der Flächentarifvertrag gleich ganz zur Disposition gestellt wird.

Aber auch diese Entwicklung hat nicht nur eine quantitative Dimension - die Unternehmen wollen mehr Leistung für weniger Geld -, sondern auch eine qualitative. So begreifen sich die Unternehmen immer mehr als Organisationszentralen, die ihr unmittelbares Kommando über die Arbeit abgeben - an Arbeitsgruppen, Kompetenzzentren, Subunternehmen oder frühere Lohnabhängige, die jetzt formell selbständig sind. Da all diese Akteure darauf angewiesen sind, ihre Leistungen oder Produkte an das zentrale Unternehmen zu verkaufen, ist sichergestellt, dass die Kontrolle über die Arbeit nach wie vor der kapitalistischen Verwertungslogik folgt.

Die Unternehmen sparen eine Menge an Kontrollkosten und wälzen zusätzlich einen Teil des unternehmerischen Risikos ab. Von den einzelnen Arbeitskräften wird jetzt nicht nur Flexibilität und lebenslanges Lernen, sondern auch unternehmerisches Denken verlangt - was auch von der rot-grünen Politik unterstützt oder gar als neue Mündigkeit gefeiert wird. Dass dabei so mancher auf der Strecke bleibt, nimmt man ganz bewusst in Kauf. In seinen Überlegungen zum neuen SPD-Grundsatzprogramm warnte etwa Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement ausdrücklich vor zu viel Gleichheit. Gerechtigkeit werde auch durch Ungleichheit erreicht.

Ergebnis: Volkskapitalismus

Zu der Tendenz, aus Lohnabhängigen Unternehmer in Sachen eigener Arbeitskraft zu machen, passen auch die qualitativen Veränderungen des Sozialstaats, die Rot-Grün im Moment vor allem in der Rentenversicherung durchsetzen will. Die Ergänzung der paritätisch finanzierten Rente durch private Vorsorge bedeutet schließlich nicht nur eine Verschiebung der Kosten zugunsten der Unternehmen und zu Lasten der Beschäftigten.

Da die private Vorsorge auf dem Kapitalmarkt stattfindet, tut sich hier für die Versicherungs- und Investmentbranche ein rentables Anlagefeld auf: Der Sozialstaat wird privatisiert. Zugleich wird die Altersversorgung der Lohnabhängigen von der Entwicklung der Finanzmärkte abhängig gemacht. So werden auch die Lohnabhängigen an einer Steigerung des shareholder value interessiert sein. »Unternehmerisches Denken« ist dann nicht nur bei der Verwertung der eigenen Arbeitskraft, sondern auch bei der Altersvorsorge gefordert.

Konservative und Liberale konnten in den sechziger Jahren von der Einführung eines Volkskapitalismus, der den Beschäftigten zu einem kleinen Aktienbesitz verhilft und ihnen die Interessenidentität von Arbeit und Kapital vorgaukelt, nur träumen. Diese schöne neue Welt, in der es nur noch Kapitalisten gibt, aber keine Ausgebeuteten mehr - allerdings einige Bankrotteure und Unfähige, die an ihrem Schicksal selbst Schuld sind -, wird in Deutschland gerade von Rot-Grün geschaffen.