Faust und die »Wümme Years«

Zwölf Fäuste für einen Groove

Mit vollen Händen gaben sie das Geld ihrer Plattenfirma aus und produzierten Proberaumaufnahmen. Dreißig Jahre später sind Faust mythenumwoben wie keine andere Krautrockband.

Es kam, wie es kommen musste. Als Horst Schmolzi, einer der Manager der Plattenfirma Polydor, auf die Idee verfiel, aus Anlass eines Firmenmeetings ein großes Konzert mit Faust zu veranstalten, und Uwe Nettelbeck, der Produzent der Gruppe, die Hamburger Markthalle buchte, das Flugzeug für die Polydor-Officials charterte und seine Band dazu drängte, der Firma den Gefallen zu tun und live zu spielen, passierte nichts. Ein Flop. Was auch immer die Polydor in Faust gesehen haben mochte, den nächsten Topseller, den Gipfelpunkt des Krautrock oder einfach die Musik zur Zeit - die Band tat an jenem Abend nicht das, was man vor ihr erwartete.

1971 muss das gewesen sein, vielleicht auch 1972, irgendwann im Winter. Lastwagenweise wurde das Equipment der Band herangekarrt. Wenige Stunden vor dem Auftritt kauften Uwe Nettelbeck und Joachim Irmler, der Keyboarder der Band, einen guten Kilometer Kabel. Die Bühne war voll mit Farbfernsehern, offensichtlich das einzige, was an diesem Abend lief. Die Band saß Backstage, trank, gebärdete sich autodestruktiv, ein Soundcheck war unmöglich, ein Auftritt war unmöglich, die ganze Aktion war unmöglich.

Die anwesenden Chefs waren, sagen wir: irritiert. Faust hatten schon vorher Unmengen an Geld verschlungen. Sechs Musiker, Werner »Zappi« Diermeier, Joachim Irmler, Arnulf Meifert - der nach der ersten Platte die Band verließ und das 1. Deutsche Trivialeum, ein Archiv für Alltags- und Trivialkultur gründete -, Jean-Hervé Peron, Rudolf Sosna und Gunther Wüsthoff, lungerten ein Jahr in der Lüneburger Heide herum, auf dem Anwesen der Nettelbecks, hatten im Nachbarkaff Wümme ihr eigenes Studio, hielten sich ihren eigenen Tontechniker, Kurt Graupner, und ließen sich das alles bezahlen.

»And everything had to be discussed and discussed and discussed - to the bitter end, which always was we had to discuss it again. Those days, you know. No discussion, no move.« So jedenfalls Uwe Nettelbeck in einem Interview mit Chris Cutler, als Schlagzeuger (und Theoretiker) der linksradikalen Art-Rock-Band Henry Cow selbst eine Legende und Herausgeber der kürzlich erschienenen Fünf-CD-Box »Faust, The Wümme Years 1970-73«.

Dann kam das Markthallen-Desaster. Desaster? Joachim Irmler, ebenfalls im Gespräch mit Cutler: »It was no disaster; in my opinion it was the only true concert we ever did. That was what we really wanted to do.« Das Publikum konnte sich auf den Farbfernsehern die Tagesschau angucken. Uwe Nettelbeck auf die Frage, ob die Band nach dem, äh, Konzert etwas gewissenhafter geworden sei: »Not at all. Nothing changed. Discussions. Wrecked cars. Rehearsal tapes.«

Das alles wäre heute bloß Stoff für ein paar Anekdoten über eine deutsche Freak-Out-Hippie-Band, die einfach grotesk gescheitert ist. Hätte Nettelbeck in der Zwangslage - der Rausschmiss bei Polydor war wohl schon beschlossene Sache - nicht das einzig Richtige getan: einen Hype anzuzetteln. Also wurde bei Ian McDonald vom New Musical Express angerufen und das Problem geschildert. »He had to write that Faust was the biggest thing ever - otherwise no more Faust.«

Ein paar Tage später hatte Ian McDonald aus Faust das größte Ding seit den Beatles gemacht. Für einen kurzen Moment muss allen klar gewesen sein: Das stimmt, kein Zweifel, sie sind die beste Band der Welt. Faust waren wieder im Gespräch, die Gelder flossen und die Gruppe begann an ihrem zweiten Album für Polydor zu arbeiten: »So Far«.

»So Far« ist wie ihr erstes, unbetiteltes Album, zwei CDs mit Outtakes und collagen-haftem Material (»The Faust Tapes«, »71 Minutes«), sowie eine weitere mit einer Session für die BBC, Bestandteil jener »Wümme Years«. Faust ist schon ein extrem mythenumwobenes, anekdotengesättigtes Ding: Mal gelten sie als radikalste Krautrockband, dann als wichtige Vorläufer von Industrial und Post-Rock, eine Band also, deren Schockwellen bis in die späten neunziger Jahre reichen. Und schließlich sind sie die lebende Legende, die nach 20 Jahren des Schweigens mit »Rien« (1995 traumwandlerisch produziert von O'Rourke) und »You know Faust« (1996) wieder an die glorreichen »Wümme Years« anschließen konnten.

Um aber ins Zentrum einer so kühnen Aussage wie »das größte Ding seit den Beatles« zu stoßen, sollte man versuchen, die Faktenhuberei zu lassen. Das Auftauchen von Faust lässt sich nicht so ohne weiteres aus einem Kontext ableiten, wie das z.B. bei Can, der anderen relevanten Band, der man das Label »Krautrock« aufgepappt hat, möglich ist. Can, das waren 1968 schon ältere Musiker, die bei Stockhausen studiert hatten oder wie der Schlagzeuger Jacki Liebezeit renommierte Jazzer waren. Egal wie großartig ihre Musik ist, sie basiert auf einem relativ simplen Denkmodell: Lasst uns analog zur Neuen Musik und zum freien Jazz neue und freie Rockmusik spielen. Lasst uns fünf Schläge in einem 4/4-Takt unterbringen (Quintolen) und gucken, ob das groovt (ja, es groovt).

So was durfte man bei Faust nicht voraussetzen. Um es - vielleicht etwas gewaltsam - auf den Punkt zu bringen: Es handelt sich bei ihnen um mäßig begabte, unerfahrene Musiker - kurz: Dilettanten -, die ihren eigenen Kontext, ihre eigenen Voraussetzungen und Arbeitsbedingungen geschaffen haben. Dadurch gelangten sie tatsächlich zu einem eigenen Ausdruck, zu einem Sound, der der schöpferischen Einbildungskraft der Musiker und der Beharrlichkeit des Produzenten entsprang.

1969 gab es zwei kleine Gruppen von Musikern, die mit den Filmemachern Heinz Emigholz und Hellmuth Costard zusammenarbeiteten. Costard vermittelte seine Gruppe an einen ehemaligen Filmkritiker und konkret-Redakteur, der damals von Polydor angesprochen wurde, ob er sich nicht mal nach dem neuen, heißen Ding aus Deutschland umgucken wollte. Nettelbeck brachte Costards Musiker mit denen von Emigholz zusammen und »erfand« (Peron) Faust.

Der Name Faust meint ganz undramatisch fünf Finger, die sich zusammenballen und auf einen Gegner zuschnellen. Faust rocken - und wie! Songstrukturen zerstückeln die Musiker zu Fragmenten, die sie übereinander schichten und permanent gegeneinander verschieben. Melodien stauchen sie zu Kürzeln, die antreibend wie ein hypnotisch-rhythmisches Pattern wirken. Ordnung ist kein stabiler, sondern ein fragiler Zustand, der durch zähes Ringen dem Chaos entrissen wird. Das Auseinanderstrebende, das man selbst da noch hört, wo Diermeier einen stumpfen Beat durchprügelt, als wolle er sich obsessiv in die erst noch zu definierende Struktur einfügen, verleiht der Musik eine Spannung, die disruptiv ist und diesen Groove erst möglich macht. Darum sind die Freak Outs immer aggressiv, sie werden ja gleich wieder zur Ordnung gerufen. Darum sind die Kifferscherze - etwa lustiges Rumgedudel auf akustischen Instrumenten und Nonsenstexte - immer bloß Atempausen.

»So Far«, die Platte, auf die Nettelbeck offensichtlich größeren Einfluss nahm - so die Sichtweise der Musiker - und die aufgeräumteste, im besten Sinne poppigste Platte der Wümme-Box, verkaufte sich schlecht. Polydor ließ Faust fallen, Virgin nahm sie unter Vertrag. Sie gewöhnten sich ans Touren, trieben ihren Schabernack, wurden kurzzeitig in den Knast gesteckt, dann auch von Virgin fallen gelassen. Nettelbeck stieg aus. Schließlich, Mitte der Siebziger, buchten sie ein Studio und ließen die Rechnung an ihr Ex-Label schicken. Natürlich kamen sie damit nicht durch. Wieder Ärger. Und dann Stille. Bis in die Neunziger.

Und heute? Keine Ahnung, ob Faust (Diermeier, Peron, Irmler und Gäste) es mittlerweile geschafft haben, Hubschrauber bei ihren Konzerten zum Einsatz zu bringen. Dafür gibt es des öfteren einen Mähdrescher, der frisch geschnittenes Gras ins Publikum pustet und Chinaböller, die in Zementmaschinen geschmissen werden. Immer mal wieder ist vom Schusswaffeneinsatz die Rede, der langen Stichflamme wegen. Gastmusiker sind pikiert, wenn die Alt-Faustler plötzlich mit Kettensägen hantieren. Jean-Hervé Peron weiß dann die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen: »You may think we are crazy but we haven't killed anyone yet.«

Faust: »The Wümme Years 1970 -1973«. Recommended Records/ EfA/ No Man's Land

Die ausführlichen Interviews, die Chris Cutler mit Peron, Nettelbeck, Irmler sowie Peter Blegvad und Kurt Graupner geführt hat, sind im beiliegenden Booklet abgedruckt.