Frühjahrsklassiker des Radsports

Arbeiter gegen Arbeiter

Die klassischen Radrennen des Frühjahrs führen über Kopfsteinpflaster und matschige Feldwege. Trotzdem sind sie äußerst beliebt.

Wenn die Radprofis beim fast 200 Kilometer langen belgischen Klassiker Flèche Wallone gerade 71 Kilometer heruntergeradelt haben, kommen sie das erste Mal an die Mauer von Huy. Das ist ein dreimal zu bewältigender Berg mit 20 Prozent Steigung, der bei den Fahrern den Eindruck erweckt, sie müssten eine Mauer hochfahren.

Am vergangenen Mittwoch wartete die Mauer von Huy wieder, und diesmal waren zwölf Fahrer zuerst dort, die nach Kilometer 20 einen Ausreißversuch gestartet hatten. Doch unmittelbar davor wurden sie von demonstrierenden Arbeitern einer in der Nähe gelegenen Reifenfabrik angehalten. Es kam zu einer Schlägerei zwischen Radprofis und Reifenarbeitern. Die Polizei ging schnell dazwischen und beendete die Auseinandersetzung, die Rennleitung ließ das Hauptfeld kurz anhalten, damit der Abstand, den die Ausreißergruppe bis dahin herausgefahren hatte, ungefähr erhalten blieb. Schließlich ging das Rennen weiter.

Rik Verbrugghe gewann den Flèche Wallone. Die Symbolik, die den belgischen und nordfranzösischen Frühjahrsklassikern im Berufsradsport innewohnt, drückte sich in dieser kleinen und die Profis empörenden Szene an der Mauer von Huy aus. Dabei ist sie auch woanders zu beobachten. Liège-Bastogne-Liège, das vierte Weltcup-Rennen der Saison, das am vergangenen Sonntag stattfand, führt über zehn Ardennen-Berge, viele davon Kriegsschauplätze im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Paris-Roubaix, das dritte Weltcup-Rennen, das am Ostersonntag abgehalten wurde, führt durch die Bergarbeiterstädte Nordfrankreichs und dort vorbei an stillgelegten Zechen, über das mittlerweile denkmalgeschützte Kopfsteinpflaster aus der Zeit der ersten industriellen Revolution.

Berühmt wurden die Rennen von Paris nach Roubaix, deren erstes 1896 gestartet wurde, durch das Regen- und Sturmwetter, das die ohnehin große Tortur, einen Tag auf dem Rad zu hocken und dabei große Teile der beinah 270 Kilometer auf Kopfsteinpflaster zu fahren, noch verschlimmert. Auf Kopfsteinpflaster muss man Lenker und Vorderrad »tanzen lassen«, wie die Fahrer sagen. Das können nicht viele.

Die Flandern-Rundfahrt, das zweite Weltcup-Rennen des Jahres und der erste große Klassiker in Belgien, besitzt von allen die größte politische Bedeutung. Gegründet wurde sie 1912 von dem Belgier Karel Van Wynendaele, der sich erfolglos als Radfahrer versucht hatte, bevor er Sportjournalist wurde. Er überzeugte die Zeitung Sportswereld, eine eigene Radsportveranstaltung durchzuführen. 1913, bei der ersten Ronde van Vlaanderen, wie die Rundfahrt auf Flämisch heißt, nahmen nur 37 Fahrer teil, ein Jahr später nur noch zehn, und dann ließ der Erste Weltkrieg den ganzen Betrieb ruhen.

Wynendaele gab nicht auf. Ab Mitte der zwanziger Jahre war die Ronde endlich ein anerkannter und bald schon ein klassischer Radwettbewerb. Die Ronde, weiterhin von der Zeitung, die nun Het Allgemeen Niews-Sportswereld hieß, und Wynendaele organisiert, fuhr ungestört auch während des gesamten Zweiten Weltkriegs. 1945 warf man im befreiten Belgien dem Direktor der Ronde vor, mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert zu haben. Die Zeitung Het Volk, ein antifaschistisches Blatt, gründete 1945 mit dem »Omloop van Vlaanderen« ein Konkurrenzrennen. Wynendaele nutzte daraufhin alle seine Kontakte und setzte durch, dass das Konkurrenzrennen der Konkurrenzzeitung wenigstens nicht mit dem seinen verwechselt werden konnte. Der Radsportverband verpasste den Neuen einen anderen Namen, der auf die organisierende Tageszeitung verwies: Omloop Het Volk.

Beide Rennen haben mittlerweile viele Anhänger, wie überhaupt die belgischen Klassiker in dem kleinen Land sehr beliebt sind: ob Gent-Wevelgem, Flèche Wallone, der Brabanter Pfeil, die Drei Tage von De Panne, Liège-Bastogne-Liège oder eben Het Volk und die Flandern-Rundfahrt. Die Ronde wird immer noch von der alten Tageszeitung organisiert, die heute Het Nieuwsblad heißt.

Die belgischen Klassiker, zu denen man wegen der geografischen Nähe, des ähnlichen Streckenprofils, der vergleichbaren sozialen Bedeutung, des ziemlich identischen Wetters und nicht zuletzt wegen des Kopfsteinpflasters auch Paris-Roubaix zählen kann, bilden den Auftakt der Radsportsaison. Hinzu kommt freilich der erste Klassiker und das erste Weltcuprennen der Saison: Mailand-San Remo.

»Es sind nicht nur die unwirtlichen Wetterbedingungen, die schlechten Straßen und Distanzen zwischen 200 und 267 Kilometer, welche diese Rennen in Belgien und Frankreich wie einen Anachronismus wirken lassen«, schrieb jüngst die Neue Zürcher Zeitung. Der unverkennbare Trend des modernen Radsports zu kürzeren Prüfungen werde von den eingefleischten Classique-Anhängern keinesfalls goutiert. »Zu Tausenden genießen die Fans am Straßenrand bei Frites und Mayonnaise, wie sich die Radfahrer in den kurzen, bei Nässe teilweise äußerst glitschigen Steigungen quälen.«

Warum das scheinbar anachronistische Spektakel weiterhin so beliebt ist? Die Antwort der NZZ, dass in den meisten Rennen der Geschichte bislang Belgier gewannen, greift zu kurz. Nicht nur, weil in den letzten Jahren die Siegerlisten internationaler wurden. Die Begeisterung für die Frühjahrsklassiker dürfte vielmehr einem Arbeitsethos geschuldet sein, das dem vieler Industrie- und Zechenarbeiter entspricht und das von den Radprofis mustergültig verkörpert wird.

Ein Profi radelt nach jedem Sturz weiter, auch wenn er schon längst keine Siegchance mehr hat. Ein Profi ignoriert Schmerzen, um den Weg, der sein Ziel ist, absolvieren zu können. Die Botschaft des Radsports an den Tagen, an denen in Belgien ein Scheißwetter herrscht, lautet, dass es auch in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft immer noch eine Arbeiterklasse gibt, die sich bloß nicht gekrümmt als Lumpenproletariat präsentiert, sondern aufrecht und zugegebenermaßen nicht immer sympathisch.

Wenn der Weltklassefahrer auf dem Kopfsteinpflaster der nur wenige Meter breiten Gasse liegt, werden Zuschauer und von hinten kommende Fahrer in der aufgestauten Masse eins. Die Fahrer und die Zuschauer wissen, dass derjenige, der nicht wieder aufsteht, überrollt wird, unter die Räder kommt. Also müssen die Fahrer aufstehen, also müssen die Zuschauer ihnen aufhelfen, und also fährt auch der lädierte Profi selbst nach wiederholtem Sturz das Rennen zu Ende. Denn irgendwie muss der Betrieb doch laufen.

Das erklärt auch, warum die Nazis, die in Belgien während des Zweiten Weltkrieges beinahe das gesamte gesellschaftliche Leben zum Erliegen brachten, die Flandern-Rundfahrt durchgängig weiterführen ließen. Ihnen war klar, welche arbeitsethische Botschaft von diesem Rennen ausgeht.

Die Empörung der Fahrer an der Mauer von Huy während des Flèche Wallone am vergangenen Mittwoch ist verständlich, weil sie in dem Moment, als sie Schwung nahmen, um ihren knappen Vorsprung auszubauen, gestoppt wurden. Aber die Arbeiter, die sie anhielten, handelten klug. Sie nutzten nicht einfach ein großes Sportereignis, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen, sondern sie störten auch das im Radsport versinnbildlichte Arbeitsethos.