Neue Erzählungen von Wolf Wondratschek

Der Arsch als Face

Wolf Wondratschek fühlt sich von der Gegenwart beleidigt und schreibt sich zurück zum Fin de siècle.

Früher began Wolf Wondratscheks Tag mit einer Schusswunde. Da nahm er sich auch noch Rolf Dieter Brinkmanns Diktum zu Herzen, vergaß, dass es so etwas wie Kunst gibt, und fing einfach an. Dieses quasi-naive poetologische Verfahren zeitigte zwar nicht immer überzeugende Ergebnisse, aber ein paar der frühen Erzählungen und vor allem die Lieder aus »Das leise Lachen am Ohr eines andern« und »Männer und Frauen« stehen völlig zu Recht in den maßgeblichen deutschsprachigen Anthologien und Schulbüchern.

Diese Texte zu lesen, ist nicht das Schlechteste, was einem im Deutschunterricht passieren kann. Sie sind auf eine hübsche Weise sentimental, welthaltig, offenbaren das nötige Gespür für den poetischen Augenblick und die stilistische Potenz, diesen abzukonterfeien. Hier war Wondratschek tatsächlich auf Augenhöhe mit seiner Zeit, auch deshalb, weil er die populäre Kultur als Substrat des Ästhetischen ernst nahm.

Mittlerweile ist er beim Alterswerk angelangt. Jetzt zeugt jeder Nebensatz von der Anstrengung, Kunst herstellen zu wollen. Und nur darum geht es in diesen vier neuen Erzählungen: um die Bedingungen, Modi, Begleitumstände der Kunst und um die sich daran zuschanden arbeitenden, an ihr leidenden, desillusionierten, weil zumeist gescheiterten Persönlichkeiten. Und natürlich werden dabei die großen alten Probleme der Ästhetik noch einmal gewälzt: etwa das der Reflexion im künstlerischen Schaffensprozess, das notwendig die Leichtigkeit des Werks zerstören muss; das der Funktion von Kunst und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit.

Genau dafür scheint sich Wondratschek besonders zu interessieren, denn diese Funktion wirkt immerhin strukturbildend in drei der Geschichten. Und er beantwortet diese Frage - wie gesagt, es ist ein Alterswerk! - gut ästhetizistisch: Das Leben steht der Kunst im Wege, es verhindert sie oder verunreinigt sie doch zumindest. Und vice versa sind diejenigen, die ihr Leben der Kunst geweiht haben, nicht wirklich am Leben. Nach Art einer Versuchsreihe spielt er dieses Modell mehrfach durch. In der Titelgeschichte »Die große Beleidigung« ist es das Publikum, das den nach eigener Einschätzung virtuosen Geiger Auermann so sehr einschüchtert, dass er im Konzert nur mehr mediokre Qualität abzuliefern in der Lage ist und schließlich an diesem Missverhältnis von eigentlich Gekonntem und tatsächlich Geleistetem zerbricht.

In »Die Erfindung eines glücklichen Menschen« wird der Schriftsteller Wrenkh von seinem kranken Sohn daran gehindert, eine so gut wie vollendete Erzählung fertigzustellen; er kann sich nicht richtig konzentrieren, immer wieder gewinnen Gedanken, die sich um das Spiel mit seinem Sohn drehen, die Oberhand, vermischen sich mit der Geschichte und verdrängen sie schließlich ganz. Und in der Auftakterzählung »Giotto« stellt uns Wondratschek zwar einmal einen Protagonisten vor, einen Regisseur, der durchaus künstlerisch produktiv ist, dem dafür aber mehr und mehr die Welt abhanden kommt, der in Einsamkeit und Lethargie dahindämmert und zu allem Überfluss sukzessive sein Augenlicht verliert. Bis er schließlich ausbricht, um das Leben nachzuholen und als Künstler zu verstummen.

Am Ende des Buches steht der Hinweis, dass die Erzählungen in Wien geschrieben wurden. Man hatte es sich fast gedacht, denn sie atmen allesamt diesen alten, abgestandenen Fin-de-siècle-Brodem. Die einschlägigen Themen werden hier verhandelt, das Personal stammt direkt aus der KuK-Monarchie, jedenfalls spricht, denkt und verhält es sich ganz so dekadent, müßiggängerisch und überfeinert, wie es zur vorletzten Jahrhundertwende wohl en vogue war. Und Wondratschek betreibt eine stilistische Geziert- und Gespreiztheit, dass es manchmal so klingt, als habe er die Wiener Altmeister parodieren wollen, was ihm seine grenzenlose Ironie- und Humorlosigkeit aber natürlich verbietet.

Diese anachronistisch-behäbige Affektiertheit ist ärgerlich von Beginn an, vor allem weil sie der Langeweile eine neue Dimension erschließt. Und nur die reine Perfidie hält einen bei der Stange, vielleicht doch noch nicht die geschraubteste, verzopfteste, abgeschmackteste Passage angestrichen zu haben. Möglicherweise ist es dieser Dialog hier:

»Ich habe mich heiraten lassen, meine Beste, allerdings, zugegeben, ganz gegen jede meiner Überzeugungen diesbezüglich. Bei jeder stellte ich mich in den Dienst einer anderen Lüge. Jede bezahlte mich mit ihrer Schönheit. Und zahlte dann mit dem Leben (...)

Was waren das für Frauen? Ich bin neugierig, erzählen Sie. Waren es, außer daß sie schön waren, wie Sie behaupten, auch intelligente Frauen?

Nicht daß ich es je bemerkt hätte, nein. Aber kommt es darauf an?

Nun ja, es ist vielleicht insgesamt amüsanter mit intelligenten Menschen, nicht?

Kenner schwören auf dumme Frauen, wußten Sie das nicht?

Interessante Theorie. Sie dachte darüber nach. Hatte sie, wenn sie früher vor dem Spiegel stand, nicht auch häufiger ihren Hintern begutachtet als ihr Gesicht? War ein Hintern nicht eine ehrlichere Haut als ein Gesicht? Ein Hintern war nicht auf Schminke angewiesen, sondern auf Durchblutung. Ein Hintern war eine runde Sache, wenigstens so lange, bis er die Form einer abfallenden Fieberkurve annahm. Gab es nicht Frauen, die nur aus Hintern bestanden, einem Hintern, groß wie ein Stück Marmor?«

Nun muss man sich angesichts solcher Stellen nicht nur fragen, was dieser Mann eigentlich nachts träumt, sondern auch, wen diese Etüden aus der Mottenkiste eigentlich überzeugen sollen. Die sind doch längst alle tot!

Übrigens, dieselbe Frau, deren Gedanken Wondratscheks Erzähler referiert, zeigt sich kurz vorher noch fasziniert von einem barmherzigen Poeten, »der Gedichte verfaßt, sie dann auswendig gekonnt und das Papier, auf dem sie geschrieben waren, ins Feuer geworfen hatte«, auf dass nichts, aber auch gar nichts dem Publikum zu Gesicht komme. Interessante Methode. Darüber sollte er mal nachdenken!

Wolf Wondratschek: Die große Beleidigung. Vier Erzählungen, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2001, 143 S., DM 28