Wachsende Kritik an Sharon

Ein bisschen siedeln

Während die Palästinenser gleichzeitig aufrüsten und Verhandlungen anbieten, wächst in Israel die Kritik an Premierminister Ariel Sharon.

Bislang hatten Presse und Öffentlichkeit in Israel die Arbeit der Koalitionsregierung unter Premierminister Ariel Sharon überwiegend positiv beurteilt. Nun aber mehrt sich die Kritik. Angesichts gegensätzlicher Forderungen seiner Koalitionspartner und wachsender internationaler Vorbehalte, schrieb Aluf Benn in der linksliberalen Tageszeitung Ha'aretz, lasse Sharon eine klare Linie und eigene Initiativen vermissen.

Jüngsten Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Israelis zwar weiterhin Sharon, befürwortet aber Zugeständnisse an die Palästinenser, wenn sie dazu dienen, die Eskalation der Gewalt zu beenden. In der vergangenen Woche hatte die brutale Ermordung von zwei israelischen Jugendlichen die Öffentlichkeit schockiert. Die beiden 13 und 14 Jahre alten Teenager, Bewohner der südlich Jerusalems in der Westbank gelegenen jüdischen Siedlung Tekoa, wurden am vergangenen Mittwoch auf einer Wanderung vermutlich von zwei Palästinensern gesteinigt.

Die israelische Armee reagiert auf Gewalttaten immer wieder mit dem Beschuss palästinensischer Gebiete. Bereits Anfang der Woche wurde dabei ein palästinensisches Baby im Gazastreifen vermutlich von Splittern einer Panzergranate getötet. Einheiten der israelischen Armee stießen mehrmals in von der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) kontrollierte Gebiete vor, um Gebäude zu zerstören, aus denen Armeestellungen und Wohngebiete in Israel mit selbst gebauten Granatwerfern beschossen wurden.

Beide Seiten scheinen sich auf einen längeren Zermürbungskrieg einzustellen. Israels Premierminister Ariel Sharon hatte bereits Mitte April in verschiedenen Interviews klar gemacht, er gehe davon aus, dass die Gewalttätigkeiten andauern. »Die Zeit arbeitet nicht gegen uns«, meinte Sharon etwa gegenüber Ha'aretz. Auch die PA und andere palästinensische Gruppen rüsten sich für weitere Kämpfe.

Vor anderthalb Wochen brachte die israelische Marine vor Haifa ein Schiff auf, das, aus dem Libanon kommend, mit einer Waffenlieferung nach Gaza unterwegs war. Neben riesigen Mengen Maschinengewehrmunition hatte es auch 50 Katjuscha-Raketen, vier Boden-Luft-Raketen, 20 Granatwerfer, 120 Anti-Panzer-Granaten, zwei Mörser nebst Mörsergranaten, 70 Minen sowie 30 Kalaschnikow-Sturmgewehre geladen. Die Katjuscha-Raketen hätten von Gaza aus größere israelische Städte am Mittelmeer, von der Westbank aus sogar Tel Aviv und Jerusalem erreichen können. Mit den Boden-Luft-Raketen wäre es zudem möglich gewesen, Passagierflugzeuge im Anflug auf Israels wichtigsten Flughafen zu treffen.

Nach Angaben der aus vier libanesischen Schmugglern bestehenden Schiffsbesatzung war die tödliche Fracht im Auftrag der extremistischen palästinensischen Splittergruppe PFLP-GC unterwegs. Deren Anführer, der in Damaskus residierende Achmed Jibril, tönte sogleich, er wolle »unseren Familien« Waffen liefern, um sie zu »schützen und eine Balance des Terrors« herzustellen. Es habe sich um fabrikneue Waffen im Wert von einer Million US-Dollar gehandelt. Außerdem behauptete er, es sei bereits die vierte derartige Lieferung gewesen. Diese Angabe ist nicht überprüfbar, doch israelische Militärexperten sind sich einig, dass die verschiedenen palästinensischen Gruppen zumindest regelmäßigen Munitionsnachschub bekommen.

Der palästinensische Minister Saeb Erakat bestritt, dass die PA etwas mit der vereitelten Waffenlieferung zu tun habe und erklärte, entsprechende Bezichtigungen dienten Israel lediglich dazu, seine »Angriffe auf die palästinensische Führung zu rechtfertigen«. Doch als die israelische Armee kürzlich einen geheimen Tunnel zwischen dem Gazastreifen und der ägyptischen Sinaihalbinsel entdeckt hatte, kommentierte ein hoher Offizier der palästinensischen Eliteeinheit Force 17 lakonisch, man befinde sich eben »im Krieg mit Israel«.

Andererseits aber scheint die PA auf ein stärkeres Engagement der USA zu setzen, um die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Yassir Arafats Vertreter Abu Mazen wird zu Verhandlungen in Washington erwartet, das zentrale Thema dürfte der vor zwei Wochen veröffentlichten Bericht der so genannten Mitchell-Kommission sein (Jungle World, 20/01). Der Bericht wird weiterhin heftig diskutiert, umstritten ist vor allem der Vorschlag, als Gegenleistung über eine Beendigung der Gewalt von palästinensischer Seite solle Israel einen totalen Baustopp für die jüdischen Siedlungen verhängen. Die PA hat den Mitchell-Bericht vorbehaltlos akzeptiert, auch die bisherigen Äußerungen aus Kreisen der US-Regierung waren positiv.

Die israelische Regierung dagegen besteht auf einem Waffenstillstand, bevor neue Verhandlungen beginnen. Sharon will zwar keine neuen Siedlungen errichten, bereits bestehende jedoch ausbauen. Außenminister Shimon Peres dagegen sah »positive Elemente« im Mitchell-Bericht und versuchte mit der Formulierung zu beschwichtigen, bei dem angestrebten »natürlichen Wachstum« der Siedlungen ginge es nicht um »territoriales«, sondern nur um »demographisches« Wachstum sowie um Befestigungen zum Schutz vor palästinensischen Anschlägen.

Auch in Israel ist die Haltung der Regierung Sharon/Peres umstritten. Die Diskussionen erinnern zuweilen an die achtziger Jahre, als die israelische Friedensbewegung das Prinzip »Land gegen Frieden« propagierte. Man könne den Siedlungsbau nicht mit Terroranschlägen vergleichen, und wenn es um einen gleichwertigen Tausch gehen solle, müsse es »Frieden gegen Frieden« heißen, argumentiert die Rechte. Dagegen meint etwa Uri Avnery von der Friedensgruppe Gush Shalom, diese Forderung bedeute, »die Palästinenser würden ihre Waffen niederlegen im Austausch für gar nichts«.

Kommentatoren wie Ze'ev Schiff von der Ha'aretz betrachten die Diskussion über die Siedlungen als Ergebnis einer geschickten Propagandastrategie der Palästinenser. »Im Sinne von Public Relations ist das Thema der Siedlungen aus palästinensischer Sicht eine großartige Wahl«, so Schiff. Übereinstimmend meint auch Herb Keinon von der Jerusalem Post: »Während der ersten fünf Monate der aktuellen Intifada sprach niemand von den Siedlungen«, doch inzwischen sei man vom Al-Aqsa-Motiv abgegerückt und habe die Siedlungspolitk in den Vordergrund gestellt.

Die Forderung nach einem Stopp des Siedlungsbaus scheint auch bei der israelischen Bevölkerung auf Verständnis zu stoßen. Einer von der Tageszeitung Ma'ariv in Auftrag gegebenen und vergangenen Freitag veröffentlichten Gallup-Umfrage zufolge unterstützen 55 Prozent der Israelis den Vorschlag, im Austausch für einen Waffenstillstand den Ausbau der Siedlungen zu stoppen. Nur 39 Prozent lehnen dies ab.

Möglicherweise kann die israelische Friedensbewegung also wieder mit größerer Unterstützung in der Bevölkerung rechnen. Der außerparlamentarische Teil der Bewegung hat die Siedlungspolitik schon länger scharf kritisiert, nun scheint sich auch der parlamentarische Flügel deutlicher gegen die Siedlungspolitik abzugrenzen. Mitglieder und Abgeordnete der liberalen Meretz-Partei, aber auch des linken Flügels der Arbeitspartei haben sich am vergangenen Freitag in einer Zeitungsanzeige für den Stopp des Siedlungsausbaus ausgesprochen.

Die öffentliche Befürwortung eines solchen Schrittes, der der aktuellen Regierungspolitik widerspricht, ist Teil eines Macht- und Richtungskampfes in der Arbeitspartei. Die Unzufriedenheit mit der Koalitionsregierung, insbesondere aber mit den von der Arbeitspartei gestellten Ministern Peres und Benyamin Ben-Eliezer wächst. Nun erwägen mehrere prominente Vertreter des linken Flügels, bei der Wahl des Parteivorsitzenden im September gegen Ben-Eliezer anzutreten.

Sollte ein integrationsfähiger Parteilinker wie etwa der derzeitige Parlamentspräsident Avraham Burg gewinnen, könnte er mit dieser Legitimation beanspruchen, Peres als Außenminister abzulösen. Peres wird vorgeworfen, sich zu wenig von Sharon zu unterscheiden. Uri Avnery drückt es drastischer aus: Peres sei »eine wandelnde Lüge« und fungiere mit seinem Image als Friedensnobelpreisträger als »kugelsichere Weste«, die Sharon vor den »Kugeln der Kritik« schütze.