Fußball in der Weimarer Republik

Training für die Massen

Als Paradesport des geschlagenen deutschen Heeres und durch die Verlegung des Krieges in die Stadien gewann der Fußball in der Weimarer Republik an politischer Bedeutung.

Sebastian Haffner schrieb in seiner Autobiografie, der kürzlich erschienenen »Geschichte eines Deutschen«, für die Zeit von 1924 bis 1926 vom Sport als letztem »großen deutschen Massenwahn«, dem er selbst erlegen sei. Haffner, 1907 geboren und aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Milieu, trainierte seinerzeit verbissen Leichtathletik. Sein Vorbild war der deutsche Mittelstreckenläufer Otto Peltzer, der manchmal sogar den legendären Finnen Paavo Nurmi überspurten konnte.

Noch populärer war Fußball. Bis 1924 wuchs die Zahl der DFB-Mitglieder auf etwa 750 000 und überschritt 1932 die Millionengrenze, auch in den Verbänden des Arbeitersports und der konfessionellen Organisationen wurde viel gekickt. Die Sportart faszinierte alle Milieus, und schnell waren jene Strukturen da, die sie noch heute charakterisieren. Neben der Ausgestaltung von Spielbetrieb und Verbandsstruktur war vor allem Kommerz die Grundlage dieser massenwirksamen Pop-Kultur.

1927 existierten über 500 Sportzeitungen, und auch das junge Radio erkannte die mediale Attraktivität dieses Sports. Bereits im November 1925 berichtete ein Sender live, als erstes Länderspiel wurde fünf Monate später die Begegnung Deutschland gegen Holland übertragen. Diskutiert wurde über diese Partie allerdings hauptsächlich wegen zünftiger Zuschauerausschreitungen.

Die Fachzeitung Fußball beschrieb die chaotische Szenerie: »Um drei Uhr, als der Omnibus mit der deutschen Mannschaft auf dem Platz ankam, waren über 60 000 Zuschauer auf ihren oder fremden Plätzen, und Tausende mit und ohne Karten standen vor den Toren, Einlass verlangend. Eisentore wurden eingedrückt, Frauen kreischten, Kinder jammerten, Männer fluchten und schlugen wie wild um sich. Masse Mensch raste. Im Nu stand die deutsche Mannschaft eingekeilt in der Menge, um sich einen Weg erzwingen zu müssen. Die verantwortlichen Herren vom Platzkomitee wurden erst sichtbar, als die Mannschaft zur Ruhe gekommen war. Irrsinnige Szenen spielten sich inzwischen im Innenraum ab. Tausende hatten die Barrieren überstiegen, durchbrochen und niedergetreten. Schutzpolizei sah man kaum. Zwei (!) berittene Schutzleute übernahmen die Aufgabe, die Reihen aufzurollen.«

Zuschauergewalt beschränkte sich nicht auf Länderspiele, die Gleichung »Fußball und Nationalismus gleich Gewalt« würde eine unzulässige Vereinfachung darstellen. Denn auch beim zweiten DFB-Finale 1922 hatten die Organisatoren die überschäumende Begeisterung der Zuschauer unterschätzt. Nach Augenzeugenberichten »fasste (der Platz) die Massen nicht, die abseits der Straßen über die Felder heranströmten, alle Absperrungen niederrissen und vielfach auch ohne Karten bis an den Spielfeldrand vordrangen. Die dahintersitzenden Inhaber von teuren Sitzplätzen konnten natürlich nichts sehen. Die Folge war eine explosive Erregung der Massen. Selterflaschen flogen als Wurfgeschosse durch die Luft. Es gab Verletzte in Massen, und als das Spiel begann, war die Stimmung schon auf den Siedepunkt gestiegen.«

Diese neuartige Beziehung zwischen Zuschauern und Spielern irritierte. Der Artikel »Zur Psychologie des Fußballspiels«, der 1930 in der sportkritischen Zeitschrift Leibesübungen erschien, bedauerte die Vergänglichkeit der Ideale aus der Kaiserzeit: »Wir sprachen gern von Förderung der Kameradschaftlichkeit, Ritterlichkeit, Intelligenz, des Gemeinschaftssinns usw. und mussten doch immer wieder das Gegenteil hören: Schlägereien, Brutalitäten, gemeine Handlungen, Eifer eines gegen die andern, Geschäftsmachenschaften im Sport (...) Es spricht für eine Entartung unseres gesunden menschlichen Empfindens und für unrichtige Beurteilung der Massenpsychose, wollte man jeden Volkssport auch ideell als erstrebenswert hinstellen.«

Zwei Jahre später wurde wiederum in Leibesübungen den Medien vorgeworfen, sie hätten alles getan, »um Fußballspieler zu Sporthelden zu machen. Bis zu widerlicher Stilistik steigerten sich die Lobpreisungen oft. So wurde der Volksliebling aufgezogen, dem heute die Zuschauermassen begeistert zujubeln. (...) Der Unwille der Massen hat sich nicht selten bis zu tätlichen Angriffen auf Spieler und Schiedsrichter gesteigert, wenn man glaubte, die Misserfolge der eigenen Lieblinge durch sportliche Gemeinheiten eines der Genannten erklären zu müssen.«

Auch Intellektuelle beteiligten sich an der Sportkritik. In einer 1932 erschienenen Sonderausgabe der Kulturzeitschrift Der Querschnitt verarbeitete Franz Werfel ein Stadionerlebnis: »Eine Masse von sechzigtausend Menschen Kopf an Kopf, zusammengeschmolzen zu einem kreisrunden Untier. Dieses Untier starrt besessen und ausbruchsbereit in die Arena hinab, wo die beiden Mannschaften ihren Kampf ausfechten. Eine dieser Mannschaften gehört dem Untier an, es vertritt die Sache seiner Stadt oder seines Landes. Dies soll nur Spiel sein? So hören Sie doch dieses urweltliche Aufbrüllen, dieses frenetische Siegesgeprassel, wenn einer der Unsrigen ein Goal schießt! Und wenn der Schiedsrichter einen feindlichen Fehler ungestraft lässt, dieses niederschmetternde Huuh, den Nebelhörnern von zwanzig Ozeanriesen vergleichbar!! Haben die Anderen aber Erfolg, herrscht Totenstille, nur vom lauten Applaus einiger Abtrünniger und Defaitisten unterbrochen. Kein Großmut dem Feinde.«

Es war auch die Verschmelzung zwischen Sport und Militär, die solche Stimmungen erzeugte. Kurt Tucholsky analysierte diese Symbiose bereits 1920 in seinem Aufsatz »Soldatensport«: »Es ist ein Spiel geworden, was einmal blutige Notwendigkeit gewesen sein mag. Ein Sport. Ein nutzloser, steuerverschlingender Sport. Als das Heer zerschlagen war und die Entente die Aufstellung eines neuen verbot, da erfanden sie einen inneren Feind, und wo keiner war, da machten sie einen.«

Diese Sätze waren angesichts einer seit 1920 existierenden geheimen Verbindungsstelle zwischen Sport und Militär im Reichswehrministerium keine reine Fantasie. Sechs Jahre später polemisierte Tucholsky im Essay »Fußball mit Menschenköpfen« erneut gegen diese immer noch vorhandene Verquickung. Nach Berichten der von einem Militärregiment herausgegebenen Sportnachrichten, die von reaktionären Visionen einer »völkischen Sportgemeinschaft« träumten, war für den Publizisten klar: »Die Wahrheit sieht so aus: Machen wir uns nichts vor! Der begeisterte Sportsmann hat nicht das Endziel, seinen Körper zu stählen. Sondern diese Stählung ist nur ein Mittel zu seinem einzigen wahren Ziel, welches heißt: Kampf und Sieg.«

Fußball galt, wie Reichstrainer Otto Nerz in seinem Lehrbuch »Kampf um den Ball« formulierte, als Paradesport, um militärische Eigenschaften wie »List, Energie, Mut, Übersicht, Kaltblütigkeit, aber auch Ritterlichkeit und Anstand« für den »Lebenskampf« zu schulen. Im DFB-Jahrbuch 1920 stand, Fußball kenne »keine weibische Weichlichkeit, kein ängstliches Zagen, keine Empfindelei«, und so maßen die Zuschauer und die Spieler den Regeln lange Zeit keinen übergroßen Wert bei.

Es wurde hart gespielt in Deutschland. Damals bildeten sich bei Journalisten genau jene Stereotypien aus, die den deutschen Fußball heute noch beschreiben: Kampfkraft, Athletik und Disziplin, gesunde Härte. Das 1922 vom Fachorgan Fußball gefällte Urteil ist bezeichnend: »Der deutsche Fußballspieler spielt selten niedlich, elegant, doch herber, glücklicher unbeschränkt. Der deutsche Fußballspieler hat alle guten und schlimmen Eigenschaften des deutschen Menschen: das Eigene, Erdgewachsene, Bodenverknüpfte, abgründig Sehnsüchtige, aber auch das Enge, Eigensinnige, Dumpfe und Träge in seinem Spiel. Deutsche Fußballspieler sind oft abscheulich kleinliche Spießer, aber doch mit so heiligem Ernst, so versunkenem Hinsehen, so sachlich emporgehoben bei ihrem Spiel, wie keines von den anderen Völkern.«

Wenn deutsche Kicker einmal auf sich aufmerksam machten, war nicht brillante Spielanlage verantwortlich, sondern maschinenhaftes Spiel. »Das österreichische Spiel war barock, das deutsche ein lichter, hochragender Industriebau aus Stahl und Glas«, schrieb eine Wiener Zeitung, als das deutsche Team 1922 überraschend an der Hohen Warte mit 2:0 gegen Österreich gewann. Solche Erfolge wurden in der Heimat begeistert aufgenommen, sie zeugten von der Bedeutung eines neuen gesellschaftlichen Bereiches.

Offenbar war der Fußball schon damals in der Lage, Sehnsüchte des Publikums zu erfüllen. Denn er bot einfache Kategorien: Siege und Niederlagen. Nach 90 Minuten stand das Ergebnis fest und bedurfte keiner weiteren Erklärung. Das war anders als die zähen politischen Verhandlungen mit den Siegerstaaten, die nur neue Fragezeichen produzierten. Da konnte ein Sportsieg gegen einen »Feindstaat« wie Frankreich als Balsam wirken.

Auch Sebastian Haffner hat den »Sportfimmel« Mitte der zwanziger Jahre so erklärt: »Die Sportberichte spielten eine Rolle wie vor zehn Jahren die Heeresberichte, und was damals die Gefangenenzahlen und Beuteziffern gewesen waren, das waren jetzt Rekorde und Rennziffern.« Wofür steht der Sport eigentlich heute?

Der Beitrag wurde von der Redaktion gekürzt. Eine vollständige Fassung erscheint Ende Juni im Journal der Jugendkulturen, Nr. 5. www.jugendkulturen.de