Aufnahmen der Krautrockband Neu! wieder veröffentlicht

Aus Alt mach Neu!

Auch Herbert Grönemeyer hat lichte Momente und veröffentlicht auf seinem Label die wegweisenden Aufnahmen der Düsseldorfer Krautrockband Neu!

Ein paar Sekunden Stille, dann schält sich aus dem Rauschen der Boxen ein Bassmotiv heraus: minimalistisch, auf wenigen Tönen insistierend und synkopiert. Das Motiv wird wiederholt (und man weiß sofort: das geht jetzt stundenlang so weiter). Manchmal stolpert es, natürlich elegant, mehr ein Hüpfen. Es ist nicht fett, es pumpt nicht, es ist auch keine »bassline«, sondern eine Einheit, eine klare, repetitive Einheit, die ständig gegen etwas anzulaufen scheint. Aber nicht mit dem Kopf durch die Wand. Der Bass wird in einer auffallend hohen Tonlage gespielt, könnte fast von einer Gitarre kommen.

Gitarren gibt es auch. Rechts aus der Box schmatzt eine Wah-Wah-Gitarre vor sich hin. Sehr beiläufig, aber eben auch konstant, als habe sie nie einen anderen Sound von sich gegeben. Darüber erhebt sich eine weitere Gitarre, viel prägnanter. Getunt durch diverse Effektgeräte, klingt sie wie ein Keyboard, die Töne haben eine völlig auf den Kopf gestellte Dynamik, hören sich an wie rückwärts gespielt. Im Vergleich mit dem Bassmotiv kommt einem das vor wie in Zeitlupe.

Herz der Musik ist das Schlagzeug. Nicht brachial, nicht verspielt, sondern straight ahead, 4/4-Takt, aber ein improvisierter Vierer, eher ein 4/4-Puls. Immer in enger Tuchfühlung zum Bass. Das ist es, dagegen rennt der Bass an. Und trotzdem wirkt das insgesamt unendlich leicht; eine Textur von größter Durchlässigkeit unter Wahrung größter Konsistenz. Texte gibt es nicht, wenn man eine Stimme hört, dann wird auch sie instrumental eingesetzt.

Was das ist? Neu! Blödes Wortspiel: Der Sound ist neu, die Band ist neu, was liegt also näher, als sich auch so zu nennen: Neu! Wir schreiben das Jahr 1971. Im Dezember fahren die Düsseldorfer Klaus Dinger und Michael Rother nach Köln-Godorf, ins Studio des legendären Produzenten Conny Plank. Er hat nicht nur die meisten Krautrocker produziert, sondern auch Devo, Eurythmics, Ideal oder Ultravox. Bis dato waren Dinger und Rother zwei Drittel einer anderen Düsseldorfer Band: Mit Florian Schneider waren sie Kraftwerk, ein gutes Jahr und ein ausgefreaktes Album lang. In vier Nächten spielen sie für das Brain-Label ihr erstes Album ein. Auf dem weißen Cover wird in neonpinker Schrift ein schlichtes Neu! prangen. Wenn Velvet Underground sechs Jahre zuvor die Synthese von Rock und Minimalismus vollzogen hat, dann versöhnt Neu! Punk und Hippietum - ohne zu dem Zeitpunkt von Punk überhaupt eine Ahnung zu haben.

Heute heißt es, Dinger (hauptsächlich am Schlagzeug) und Rother (der Gitarrist und Bassist) hätten sich schon damals nicht richtig blendend verstanden, und dass sie Plank als vermittelnde Instanz brauchten, um diese perfekte Balance zwischen Aggression und diesen schwebenden, weichen Sounds hinzubekommen. Wie dem auch sei, diese Musik macht es möglich, Rock nicht als Zustand oder als Haltung zu beschreiben, sondern als Prozess, als etwas, das sich erst aus einem Ineinandergreifen von Widersprüchen ergibt. Darum kann Brian Eno auch, ohne rot zu werden, zu Protokoll geben, dass es »in den Siebzigern drei großartige Rhythmen (gab): Fela Kutis Afrobeat, James Browns Funk und Klaus Dingers Neu!-Beat«.

Für sich genommen ist Dingers Beat recht unerheblich, weit entfernt von den Finessen Jaki Liebezeits, des Schlagzeuges von Can. Nur innerhalb des Sound-Gewebes beginnt der starre Beat zu pulsieren und zu einem Statement der Eleganz und der körperlichen Verausgabung zu werden. Auch der Neu!-Song bleibt immer der gleiche: Der erste Track des ersten Albums heißt »Hallogallo«, der erste des zweiten Albums (»Neu! 2«) »Für Immer«. Es ist die traumwandlerische Fortsetzung, die bewährte Arbeitsteilung von Gitarre, Bass und Schlagzeug.

Weil sie die so perfekt beherrschen, hört man jede Abweichung. Jedes Abdriften ins Hippie-Gedaddel kommt fast schon einem Aufatmen gleich. Und was sich in den späteren Jahren, auf ihrer zweiten LP (1973) und ihrer dritten (1975) an Spannungen verdichtet, entlädt sich in Musik, die tatsächlich Punk vorwegnimmt und das Beste von dem, was Sonic Youth in den achtziger Jahren gemacht hat.

In einer Zeit, als Faust sich selbst im Weg stand, Can zunehmend vernebelte und Kraftwerk noch nicht seine Form gefunden hatte, waren sie die Besten. Ohne aber eine richtige Band im Sinne einer verschworenen Gemeinschaft zu sein. Michael Rother gründet schon 1973 mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius (Cluster) Harmonia. Nur um den Plattenvertrag zu erfüllen, kommen Rother und Dinger Ende 1974 zusammen und spielen »Neu! 75« ein. Schon kurze Zeit später präsentieren sie eigene Projekte. Rother wird Solokünstler, hat bis dato acht Soloalben veröffentlicht und arbeitet gerade an seinem neunten. Rother entscheidet sich für die trancehafte, leicht kitschige Seite von Neu! In seiner Biografie räumt er Neu! einen bescheidenden Platz ein.

Dinger dagegen gründet La Düsseldorf (»We felt very glamorous in those days. Düsseldorf is a small city but there's a lot of fashion, many photographers and advertising agencies.«) Er verfolgt den Pop-Art- und Pre-Punk-Ansatz weiter. Drei Alben folgen, über eine Millionen Platten verkauft die Band. Heute ist Dinger in einer Art Düsseldorfer Allstar-Band namens La? Neu! unterwegs. Auf seiner Homepage (www.dingerland.de) wahrt er eifersüchtig das Erbe der Band.

Mitte der achtziger Jahre treffen sich Rother und Dinger noch mal, um ein Neu!-Album aufzunehmen. Dinger veröffentlicht die Aufnahmen später ohne die Zustimmung Rothers. Man kann nicht sagen, dass die beiden viel Sympathie füreinander hegen. Schnitt.

Vor einiger Zeit hört Herbert Grönemeyer bei einem Fotoshooting in London Neu! Grönemeyer hat eine klare Minute und will die Alben auf seinem ambitionierten Grönland-Label rausbringen. Er überzeugt Rother und Dinger tatsächlich von der Idee, nach 25 Jahren die Alben, die so unterschiedliche Acts wie Bowie, Sonic Youth, Radiohead oder Kreidler beeinflussten, für eine Neuauflage freizugeben. Seitdem deriliert Grönemeyer wieder. Etwa im Musikexpress über die Notwendigkeit der Wiederveröffentlichung: »Wir sind uns unserer Wurzeln nicht bewusst. Unser Land wird vom Mainstream bestimmt, darauf kann sich jeder einigen. (...) Aber ich glaube, dass sich das noch ändern wird. Im Zuge der Wiedervereinigung müssen wir erkennen, dass dieses Land eine eigene Identität besitzt.«

Selber Schuld. Oder wie Blur-Sänger Damon Albarn meinte: »Wenn ich mir Neu! anhöre, dann denke ich an ein Deutschland, in dem die Autobahnen aus tausenden Meilen von weißem Sand bestehen und wo die Sound Systems in den Bananenbäumen hängen - nicht an Radarfallen und Bratwürste.«

»Neu!«, »Neu! 2« und »Neu! 75« sind als CD und LP bei Grönland/EMI Electrola erschienen.