Der Balkan und der Westen

Deutschland, nie wieder

Die zwanghafte Fixierung auf die Rolle der Bundesrepublik verhindert eine materialistische Analyse der völkischen Formierung in Südosteuropa.

Hätte Elena Lange auch nur die Hälfte der Energie, die sie für die Entlarvung vermeintlich revisionistischer Ansichten von Mark Terkessidis aufbringt, in eine ordentliche Recherche gesteckt, die Debatte um eine linke Position zur Situation auf dem Balkan wäre vielleicht vorangekommen. Doch was Lange in ihrem Beitrag »Herder lesen und sterben« bietet, ist übler linker Grabenkampf, was siegt, pure deutsche Neidkultur. Da ihre Akribie auf die Aufzählung jener bürgerlichen Publikationen und Organisationen beschränkt bleibt, an die Terkessidis sich angeblich schon verkauft hat, kommt ihre Polemik über eine misslungene persönliche Abrechnung nicht hinaus.

Zum politischen Ärgernis aber wird der Artikel erst durch die an den Haaren herbeigezogene Trennung von internationalen Akteuren auf der einen und lokalen Entscheidungsträgern auf der anderen Seite. Die Penetranz, mit der Lange unterstellt, Terkessidis beziehe die Bevölkerung vor Ort nur ein, um »die Deckungsgleichheit deutscher Ziele in der Balkanpolitik von 1943 und 1999« zu kaschieren, legt nahe, dass es ihr um eine Analyse der gegenwärtigen Situation in Südosteuropa tatsächlich nicht geht.

Dass ihr Satz von der »Deckungsgleichheit deutscher Ziele« die Gleichsetzung rot-grüner Militärpolitik mit dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht auf dem Balkan bedeutet, fällt Lange gar nicht auf. Die dadurch implizierte Verharmlosung des Nationalsozialismus aber ist nur der konsequente Ausdruck ihres unbändigen Willens zu geschichtsklitternder Ideologiebildung, und nicht etwa von Kritik. Kein Wunder, dass Lange sich auch für die Dichotomie der Entscheidungen internationaler und regionaler Politiker nicht interessiert. Stattdessen muss die »gute Zusammenarbeit zwischen radikalen Albaner-Divisionen und der deutschen Besatzungsmacht« während des NS als dürftiger Beleg für die gewagte These herhalten, ethno-nationalistische Formationsprozesse ganzer Gesellschaften ließen sich dekretieren - und zwar aus Berlin.

Zwangsläufig fällt so die innereuropäische Konkurrenz und die der EU mit den USA unter den Tisch, die neoimperialistischen Implikationen der in Dayton bzw. in Rambouillet verfassten Ordnungsregime für Bosnien-Herzegowina und das Kosovo bleiben unberücksichtigt. Und die von Terkessidis zu Recht eingeforderte Beschäftigung mit der Rolle, die kroatische, serbische oder kosovo-albanische Akteure beim Zerfall Jugoslawiens spielten, wird ebenfalls vernachlässigt. Ausgehend von diesen analytischen Leerstellen lässt sich sicherlich ätzend polemisieren, die Basis für eine wie auch immer geartete Verständigung mit Linken in Jugoslawien, Bulgarien oder Bosnien schafft man so nicht.

Allen, die von ihrem Faible für deutsche Omnipotenzphantasien und großalbanische Masterpläne aus Joseph Fischers Auswärtigem Amt dennoch nicht lassen können, sei statt der Kopie die Lektüre des antideutschen Originals empfohlen. Berücksichtigt Langes Stichwortgeber Matthias Küntzel in seinem Buch »Der Weg in den Krieg« doch immerhin, dass es neben »deutschen Staatsideologen« (Lange) weitere internationale Akteure gibt, die um die Vormacht auf dem Balkan kämpfen.

Ähnlich wie Klaus Thörners »Zu kurz gegriffen« jedoch krankt Küntzels Kritik an seinem Glauben an die Allmacht deutscher Positionspapiere und FAZ-Leitartikel, daran also, dass von deutschen Think Tanks entwickelte Szenarien selten jene politische Wirkungsmacht entfalten, die Antideutsche ihnen regelmäßig unterstellen. Außerdem verhindert die Staatsfixierung dieses Zugangs, jene gesellschaftlichen Prozesse in den Griff zu bekommen, die spätestens mit der von Tito 1974 durchgesetzten Föderalisierung der jugoslawischen Verfassung zum Siegeszug ethno-nationalistischer Konzepte führten. Und zwar nicht allein auf Seiten der deutschen »Hilfsvölker« und »Satrapenstaaten« (Thörner) in Slowenien, Kroatien und dem Kosovo, sondern ebenso in Bosnien-Herzegowina und Serbien, dem Musterland »antideutscher Gegenidentifikation«, wie Terkessidis richtig kritisiert.

Verschwörerische neudeutsche Projektionen, und nicht die Ethnisierung des Sozialen auf dem Balkan, sind der Grund für die Solidarisierung mit Serbien. Geradezu exemplarisch verdeutlicht das die ahistorische Gleichsetzung Israels mit Jugoslawien durch den konkret-Redakteur Jürgen Elsässer: »Daß die 'Partei der Aufklärung' zumindest in Deutschland so deutlich in zwei unterschiedliche, ja verfeindete Lager zerfällt, müßte einen unvoreingenommenen Beobachter verblüffen, denn es gibt einige deutliche Parallelen zwischen beiden Ländern: Nach 1945 gegründet von Opfern und Gegnern des Nationalsozialismus, bewahrten sich beide über Jahrzehnte ein sozialistisches Element.« (konkret, 12/00)

Die Ignoranz, mit der in der deutschen Linken inzwischen über die Vorgeschichte der Kriege auf dem Balkan hinweggegangen wird, ist in der Tat verblüffend. Es scheint, als habe der Kosovo-Krieg die Sinne für eine kohärente Kritik vollends getrübt, obwohl bereits in den frühen neunziger Jahren neues deutsches Großmachtstreben und die völkische Formierung in Südosteuropa eingehend thematisiert wurden. Der in Deutschland zu Recht als Epochenbruch rezipierte erste Angriffskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg sollte daher nicht dazu führen, bei der Analyse der von Frankreich, Großbritannien und den USA ebenfalls geschürten nationalistischen Transformationsprozesse auf dem Balkan ganz von vorne zu beginnen.

Übrigens lässt sich auch der von Fischer stellvertretend für die regierenden Repräsentanten der 68er-Generation postulierte antitotalitäre Konsens - »Nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus - beides gehört bei mir zusammen«, sagte er im Mai 1999 auf dem Grünen-Kriegsparteitag - nicht ohne das Massaker von Srebrenica 1995 am Ende des Bosnien-Kriegs erklären. Ohne ein Verständnis dafür aber, wie es zu der augenzwinkernden Kumpanei zwischen niederländischen Blauhelmen und bosnisch-serbischen Generälen in der Uno-Schutzzone kommen konnte, bleibt der richtige Verweis, Fischer habe Auschwitz zu rot-grünen Kriegszwecken instrumentalisiert, historisch isoliert.

Zur Denunziation der neuen Auschwitz-Lüge trägt es auch nicht bei, wenn in der jungen Welt und in konkret bis heute behauptet wird, in Srebrencica habe es kein Massaker gegeben, nur weil rund um die ostbosnische Enklave lediglich die Leichen mehrerer Hundert Opfer gefunden wurden und nicht die aller vom UNHCR ermittelten 7 076 Vermissten.

Undialektisch ist diese zynische Herangehensweise ohnhehin: Wenn die Täternation nur die deutsche sein kann, verlieren sich die Verantwortlichkeiten für Vertreibungen und Vergewaltigungen in der Krajina oder im Kosovo zwangsläufig im Himmel antideutscher Ideologie. »Ethnische Säuberungen und KZs waren kein Produkt Jugoslawiens, sondern zwangsläufiges Resultat seiner Zerschlagung«, befand Elsässer etwa im zweiten Jahr des Bosnien-Krieges. (konkret, 6/94)

Auf diese Weise macht man selbst Slobodan Milosevic - neben dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman war der damalige serbische Präsident die treibenden Kraft bei der Zerschlagung Bosnien-Herzegowinas - zum Opfer bzw. zum Bündnispartner. Die konkret-Redaktion beispielsweise war sich 1991 nicht zu schade, eine Rede Milosevics mit dem Hinweis zu versehen, dass sie »in ihrer Klarheit und Vernünftigkeit verstehen lässt, warum die Deutschen mit ihrer antiserbischen Hetze so allein dastehen«. (konkret, 10/91) Erich Honecker hätte das nicht besser formulieren können.

Um dem Irrtum zu entgehen, eine von fehlenden Fakten und unberücksichtigten Aspekten durchsetzte Gegenpropaganda hätte nur den Hauch einer Chance, stringent und trotzdem radikal zu bleiben, hilft wahrscheinlich erstmal nur, Klügeres zu lesen. Und zwar zunächst Ernst Lohoffs Buch »Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg«, dem wohl besten, das zur Entstehungsgeschichte der Kriege auf dem Balkan in Deutschland erschienen ist. Wie sein krisis-Kollege Robert Kurz in »Irre Interessen« weist Lohoff vulgärmaterialistische Ausbeutungs- und Annexionsszenarien vermeintlicher Imperialismus-Theoretiker zurück. Ebenso wie den irren Glauben, Jugoslawien habe seine Bombardierung einem 1999 von Fischer vollendeten Drei-Stufen-Plan aus dem Privatarchiv Hans-Dietrich Genschers zu verdanken.

Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass die frühe Anerkennung Kroatiens und Sloweniens historisch-ideologisch motiviert war, wird man Indizien für ein geplantes Vorgehen Deutschlands schon in Bosnien-Herzegowina vergeblich suchen. Trotz ihres perspektivlosen Determinismus, liegen daher wohl die krisis-Autoren mit ihrer Einschätzung richtig, die so genannte internationale Gemeinschaft sei in Südosteuropa dazu verurteilt, »verzweifelt Fassaden staatlicher Souveränität hochzuziehen und entsprechende 'politische' Sicherheitspartner zu finden - um doch stets nur postpolitische Protektorate zu errichten, die unbefriedet bleiben«.

Auf Reisen in diese unbefriedeten Protektorate - nach Bosnien und ins Kosovo also, aber auch nach Kroatien oder Mazedonien - ließe sich das Wissen über die von Lohoff und Kurz kaum beachteten psychosozialen Implikationen völkischer Formierung sicher noch vertiefen. Revolutionär ist das nicht. Aber immerhin ersparen einem die Gesprächspartner vor Ort die Zumutung des deutschen Blicks. Denn nur deshalb, weil er von links kommt, ist er noch lange nicht besser.