»Virtueller Krieg« von Michael Ignatieff

Mein Krieg

Beim nächsten Mal wird alles besser. Michael Ignatieff kritisiert die Virtualität des Kriegs im Kosovo.

Anlässlich Joseph Fischers jüngster Nahost-Reise war besonders in Deutschland viel Tolles zu lesen und zu hören. Die Palästinenser und die Israelis hätten sich über den Zuspruch, aber auch über die »mahnenden Worte« des Außenministers sehr gefreut. Fischer habe durch seinen Besuch, der zufällig mit einem der schwersten Attentate auf die israelische Zivilbevölkerung zusammenfiel, eine »Eskalation der Gewalt« vermeiden geholfen. Fischer sei als Deutscher, vor allem aber als Europäer verstanden worden und habe der europäischen Sache bestens gedient. Fischer sei in eine Rolle hineingedrängt worden, die er mit Bravour ausgefüllt habe. Fischer sei betroffen gewesen. Fischer habe viele bedeutende, klare und entschlossene Sätze mit den Wendungen »wir müssen« und »es muss« gesagt.

Das alles ist wahr. Allerdings kann der politische Kommentar, der Politik vor allem als personality show begreift und darstellt, keine komplexen politischen Zusammenhänge mehr entdecken. Welche Motive hatte Fischer für seine Vermittlung? Warum kam seine Einmischung den Palästinensern wie den Israelis gelegen? Was sind die Gründe für den Konflikt, und welche Interessen verfolgt die westliche Welt? Für einen Journalismus, der sich solche Fragen nicht stellt, ist die zweite Intifada im Kern kaum etwas anderes als der Konflikt zwischen Arafat und Sharon.

Eine Politik, die zwar von wenigen Köpfen repräsentiert, aber von einem großen Mitarbeiterstab gemacht und vom jeweiligen System geprägt wird, ist mit einer solchen Idee von der Politik und dem Politikgeschäft nicht zu analysieren. Personalentscheidungen sind das Hauptthema der politischen Berichterstattung, und jede über das aktuelle Geschehen hinausweisende Analyse ist aus den Kommentarspalten der meisten Zeitungen verschwunden. So entsteht der Eindruck, politische Entscheidungen würden spontan getroffen und folgten menschlichen Regungen.

Wenn man etwa die Statements von führenden westlichen Politikern anlässlich des Angriffs auf Jugoslawien liest, scheint es, als gehe es in der Weltpolitik vor allem um »Betroffenheit«, »Wut« und »Zerrissenheit«. Und um die Durchsetzung von Menschenrechten, Volksgruppenrechten und Heimatrechten einerseits und die Beseitigung von Unrecht andererseits - wobei selbstredend für all diese Begriffe nur vage juristische Definitionen vorliegen. Dass die Interessen kapitalistischer Staaten höchst selten deckungsgleich mit den Rechten der Menschen sind, liest man dagegen nicht.

Wer also davon überzeugt ist, dass Politik vor allem humanitären Zwecken dient, gerät spätestens dann ins Schleudern, wenn sich - wie im Fall des Kosovo-Krieges - die offizielle Friedensrhetorik an der Wirklichkeit blamiert. So auch der in Großbritannien lebende kanadische Historiker, Romancier und Journalist Michael Ignatieff. Er mutmaßt, dass die US-amerikanische Politik seit dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan etwas versäumt hat: die Absicherung des Friedens. Und obwohl ihm die Theorien von Clausewitz geläufig sind, hält er in fast religiöser Weise daran fest, dass den Amerikanern die Aufgabe des bürgerlichen Weltpolizisten zugedacht ist, der allerorten seine Soldaten und seine ökonomische Kraft einsetzt, um für den Frieden und die Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte zu kämpfen. Entsprechend glaubt er an einen Krieg, der geführt wird, um die so genannten Schurkenstaaten zu zähmen.

In seinem aktuellen Buch »Virtueller Krieg« hat er sich den Akteuren des Nato-Krieges gegen Jugoslawien genähert, hat den Darstellungen des führenden Militärs Wesley Clark gelauscht, Richard Holbrooke auf einer Vermittlungstour begleitet, ist mit der damaligen Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals, Louise Arbour, zu den Massengräbern gefahren und hat nach dem Krieg einen serbischen Oppositionellen getroffen, der das Vorgehen der Nato für verbrecherisch hält.

Die drei Westler erzählen ihm von den Gefühlen, die sie haben, wenn der US-Präsident, die US-Außenministerin oder sonst ein Offizieller ihren Einsatz fordert, von ihren Ängsten, von den Fehlschlägen, die sie hinnehmen mussten (Chinesische Botschaft! Massengrab ist keines! Schlechte Umfragewerte!), und natürlich sprechen sie über ihren persönlichen Eindruck von Milosevic. Ignatieff betont, dass er diesen Menschen vertraut, dass sie zwar Fehler machen, aber gewissenhaft vorgehen. Dass andererseits der oppositionelle Serbe Milosevic hasst und trotzdem die Waffen gegen die Nato erhoben hätte, ist für den Autor zwar verständlich, letzlich aber irrational. Warum war der Krieg so verwirrend, warum sind nicht alle Guten gut? Das sind seine Ausgangsfragen.

Er versucht sie mit dem Theorem des »virtuellen Kriegs« zu beantworten. Der Golfkrieg, der als erster »virtueller Krieg« galt, da er im Westen als ein gigantisches Medienspektakel inszeniert wurde, bei dem keine Opfer sichtbar wurden, war nach Ignatieff noch ein Krieg »althergebrachter Art«. Der Kosovo-Krieg aber sei ein neuer, ein virtueller Krieg gewesen. Die mediale Aufbereitung des Geschehens spielt für seine These keine Rolle. »Virtuell« sei der Krieg wegen der fragwürdigen Legalität des Angriffs, wegen seines Engagements für »virtuelle Werte«, auf deren tatsächliche Durchsetzung nach dem Krieg nicht gepocht wurde, sowie wegen der Uneindeutigkeit des Sieges; der Krieg habe nicht mit dem Sieg der einen und der Niederlage der anderen Partei geendet, sondern mit einem für alle Seiten unbefriedigenden militärisch-technischen Abkommen.

Auf die Idee, dass es beim Bombardement Jugoslawiens um andere Ziele als die Durchsetzung der so oft beschworenen Menschenrechte gegangen sein könnte, kommt Ignatieff nicht. Vielleicht deshalb nicht, weil ökonomisch-strategische Ziele von der Kriegspropaganda selten explizit benannt werden und weil Leute wie Ignatieff von politischen Lobbyisten als Teil der Propagandaabteilung betrachtet und entsprechend benutzt werden. Auch aus seiner Beobachtung des Golfkrieges und des Einsatzes in Somalia hat Ignatieff nicht die Frage ableiten können, warum bei all dem Aufwand, der getrieben wurde, nichts für die Absetzung der herrschenden »Schurken« getan wurde. Von der These, dass die führenden Wirtschaftsstaaten Krisenzonen für die Durchsetzung ihrer Ziele benötigen, hat er offensichtlich noch nichts gehört.

Diskreditiert hat sich die Jugoslawien-Politik des Westens aus seiner Sicht nicht durch den Einsatz militärischer Gewalt, sondern durch die Halbherzigkeit, mit der das Militär die humanitären Ziele verfolgt habe. Das Ergebnis sei, »dass die Glaubwürdigkeit der UN-Kontingente am Beginn des neuen Jahrtausends am Boden zerstört« ist. Ignatieff nimmt die Propaganda von der Verteidigung der Menschenrechte ernst und fordert deshalb einen wirklichen, einen »totalen« und »gerechten« Krieg ein. In seinen Worten: »Wir müssen also Wege finden, unsere Waffen einzusetzen, ohne unsere Seelen und diejenigen zu zerstören, die wir retten wollen.«

Ein Buch wie »Virtueller Krieg« ist symptomatisch für eine neue politische Sekundärliteratur. Sie liefert den politischen Akteuren Stichworte, wo sie eigentlich Einsprüche formulieren wollte. Wenn die Kritik der Politik beginnt, mit Begriffen wie »Seele«, »Gutsein« oder »Gefühl« zu operieren, beraubt sie sich jeder Funktion. Sie beschränkt sich auf eine Nacherzählung dessen, was die Akteure vorgeben. Oder sie erfindet wie Ignatieff neue Begriffsfelder, die allerdings nur die Grundlage für noch härtere Maßnahmen liefern. So macht sich der politische Kommentar freiwillig mundtot.

Michael Ignatieff: Virtueller Krieg. Rotbuch Verlag, Hamburg 2001, 232 S., DM 34