Hungerstreik in der Türkei

Selbstmord statt Kommunismus

»Wer für den Kommunismus kämpft, der muss kämpfen können und nicht kämpfen, (...) sich in Gefahr begeben und die Gefahr fliehen, kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.« So die belehrenden Worte von Bertolt Brecht in der »Maßnahme«, seinem Grundkurs über politische Moral.

Kämpften die rund 2 500 Gefangenen in der Türkei, die sich seit Monaten im Hungerstreik befinden, tatsächlich für den Kommunismus, so wie sie es der Welt glauben machen wollen, sie hätten zumindest eine Ahnung von dem Brechtschen Diktum, die Mittel und der Eskalationsgrad des Kampfes richteten sich nach den konkreten Bedingungen. Und sie wüssten, dass es ein großer Unterschied ist, ob man im Kampf bewusst Risiken eingeht oder das Sterben selbst zum Ziel erklärt.

Vor über 240 Tagen begann die erste Gruppe mit dem so genannten »Todesfasten«. Allerdings haben seitdem nicht wenige den Hungerstreik zwischenzeitlich unterbrochen oder wurden zwangsernährt. Darüber, wie viele derzeit die Nahrungsaufnahme verweigern, gibt es keine verlässlichen Angaben. Fest steht nur, dass der Konflikt bislang 56 Menschenleben gekostet hat: 30 Gefangene und zwei Soldaten starben Mitte Dezember bei der Erstürmung der Gefängnisse; 24 Menschen hungerten sich zu Tode, darunter fünf Angehörige, die sich im Solidaritätshungerstreik befanden.

Fest steht auch, dass etliche - sofern sie überleben - schwere physische und psychische Schäden davontragen werden. So leiden viele Gefangene wegen des Hungerstreiks und der Zwangsernährung unter dem Wernicke-Korsakow-Syndrom, das unter anderem den völligen oder partiellen Gedächtnisverlust bewirkt. Jüngst wurden zwölf Personen wegen Haftunfähigkeit vorläufig entlassen. »Für sie gibt es keine Rückkehr«, erklärte die stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Kiraz Biçici der Tageszeitung Özgür Politika. Insgesamt seien 60 Gefangene in der »geistigen Verfassung von Kindern«.

Und noch eine Sache steht fest: Die Isolationsgefängnisse vom Typ F, gegen die sich der Hungerstreik ursprünglich richtete, sind nach der Zerschlagung der großen Gemeinschaftszellen Realität geworden, und für das Sterben in den Knästen interessiert sich niemand mehr - die türkischen Medien und Politiker nicht, das Ausland nicht, und die Kleinhändler, Arbeiter und Angestellten, die in den letzten Wochen und Monaten wegen der Wirtschaftskrise auf die Straße gingen, auch nicht. So folgten vor zwei Wochen nur wenige Tausend Menschen dem Aufruf zu einer landesweiten Bündnisdemonstration. Gleichzeitig signalisierte eine von Daniel Cohn-Bendit angeführte Delegation des europäischen Parlaments ihr Einverständnis mit dem F-Typ. Etwas weniger strikte Isolation, schon könnten die neuen Knäste als EU-konform durchgehen. Nicht zu Unrecht, diente doch Stammheim als Vorbild. Cohn-Bendits Rat an die Verantwortlichen lautete: »Lasst sie doch über die Revolution diskutieren.«

Dazu ist die Regierung allerdings weder gewillt, noch wird nennenswerten Druck auf sie ausgeübt. Der schleichende Kollektivselbstmord jedenfalls beeindruckt in Ankara niemanden. Die fehlende Aussicht auf Erfolg kompensieren die Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP/C) und die anderen gauchistischen Organisationen mit religiös-nekrophiler Metaphorik. »Sie sind zur Unsterblichkeit gelangt«, betitelt etwa die maoistische TKP(ML) auf ihrer Website die Porträts der toten Aktivisten. »Der Kampf um Vaterland, Volk und Sieg geht weiter«, verkündet die DHKP/C-nahe Zeitschrift Vatan. Wer für Wahnvorstellungen kämpft, hat auf die Tugend der Vernunft bereits gepfiffen.