Die rote Stadt

Genua besitzt eine lange linke Tradition und ist zugleich ein Experimentierfeld neuer Arbeitsformen.

Die zu erwartenden turbulenten Proteste gegen den G 8-Gipfel in der ligurischen Hafenstadt Genua rufen die Erinnerung an ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit wach. Vor ziemlich genau 41 Jahren war die Stadt bereits Schauplatz heftiger Straßenschlachten zwischen einer mehrheitlich antifaschistisch gestimmten Bevölkerung und starken Polizeieinheiten, die dort zum Schutz eines Kongresses der faschistischen Sozialbewegung MSI zusammengezogen wurden.

Die damalige italienische Minderheitsregierung des Christdemokraten Ferdinando Tambroni war auf die Unterstützung des MSI angewiesen. Die Faschisten wiederum beabsichtigten, ihren Parteitag ausgerechnet in der ehemaligen Partisanenhochburg Genua abzuhalten, deren Hafenarbeiter auf eine starke kommunistische und anarchosyndikalistische Tradition zurückblicken konnten. Das wirkte wie eine gezielte Provokation. Offenbar sollte zuerst in einer »roten Stadt« - der Geburtsstadt des Kommunistenführers Palmiro Togliatti zudem - getestet werden, auf wie viel Widerstand eine bei der Regierungsbildung angepeilte »alternativa di destra« (rechte Alternative) stoßen würde.

Die frühen sechziger Jahre waren eine Zeit, in der die sozialen Spannungen nachließen. Die Steigerung des Konsums und die weitestgehende Kontrolle der Arbeiter durch Gewerkschaften, Parteien und Kirche sorgte für den Glauben, man könne sich ohne größere Probleme einen weiteren autoritären Schub leisten. Von daher war niemand - die linken Parteien, die auf legale Protestformen gesetzt hatten, eingeschlossen - auf einen derartig gewalttätigen Ausbruch der Revolte gefasst.

Es waren vor allem Jugendliche, später von der Presse magliette a strisce (Streifentrikots) genannt, die zusammen mit den camalli, den Schauerleuten aus dem Hafen, sowie mit ehemaligen Partisanen, kommunistischen Dissidenten und Anarchosyndikalisten die Ordnungskräfte mit Steinen, Schrauben und Eisenstangen angriffen. Partisanen zeigten sich mit ihren Waffen auf der Straße und setzten sich damit über die Weisungen ihrer Verbandsführer hinweg. Die politischen und gewerkschaftlichen Führer versuchten abzuwiegeln. Doch erst als der Faschistenkongress abgesagt und die Teilnehmer in Panzerwagen aus der Stadt gebracht worden waren, beruhigte sich die Lage. Schließlich musste nach weiteren blutigen Auseinandersetzungen in anderen Städten Norditaliens sogar die Regierung Tambronis zurücktreten.

Natürlich ist es weit hergeholt, den neuen rechten Premier Silvio Berlusconi mit Tambroni zu vergleichen. Die alternativa di destra, für die 1960 die Zeit noch nicht reif war, hat sich jedenfalls durchgesetzt. Heute sitzen sogar Faschisten in der Regierung, ohne dass es zu heftigen Protesten kommt. Und auch das damals aufgetretene soziale Subjekt der Jugendlichen in Streifentrikots, denen die Verweigerung der ihnen zugedachten rigiden Arbeitermoral gefiel, kann wohl nur bedingt als Vorläufer der Tute Bianche gelten.

Einen tatsächlichen Anknüpfungspunkt für heutige Globalisierungsgegner bieten allerdings die legendären Hafenarbeiter, die auch im Aufstand gegen Tambroni eine Schlüsselrolle spielten und die später an den Kais ihre Solidarität mit dem Vietcong, mit dem chilenischen Widerstand und den Liverpooler Dockern immer wieder praktisch unter Beweis stellten.

Die Genueser Schauerleute sind zwar immer noch in einer autonomen, zunft-ähnlichen Organisation zusammengefasst, der Compagnia Unica dei Lavoratori Merci Varie (Culmv). Doch die Umstrukturierung der italienischen Häfen, die in Genua vorexerziert wurde, hat vor ihnen trotz jahrelanger Abwehrkämpfe nicht Halt gemacht.

Vor der Reform der italienischen Häfen im Januar 1994 besaßen die Docker das stets von den Unternehmern und Reedern angefochtene Monopol auf die Ausführung aller im Hafen anfallenden Verlade- und Transportarbeiten. So konnten sie in Zeiten zunehmenden Containerverkehrs noch mit Arbeitsgruppen bis 18 Mann Schiffe entladen, während für die gleich Löscharbeiten z.B. in Livorno nur sieben Leute gebraucht wurden.

Diese rigide Verteidigung der Beschäftigung und des Lohns konservierte nicht nur eine eigentümliche Arbeiterkultur, die ihre Forderungen mit dem Instrument der Compagnia außerhalb der Gewerkschaft verhandelte, sie warf auch den Hafen von Genua als Warenumschlagplatz vom Markt.

Als in den achtziger Jahren mit Fiat die Großindustrie in den Hafen drängte und ein Industriemanager zum Präsidenten der Hafenverwaltung ernannt wurde, begann die lange Periode der Privatisierung und Hafenerweiterung. Unter ihrem charismatischen »Konsul« Paride Batini, dem Sohn eines von Mussolinis Polizei wegen revolutionärer Umtriebe verfolgten Anarchisten, führten die camalli mit monatelangen Streiks und Frachtboykotten harte Abwehrkämpfe gegen die Arbeitsvergabe an Subunternehmer.

Auf den Versuch, mit neuen Managermodellen, Privatunternehmern und festgelegten Löschgebühren die Organisation der Arbeiter zu zerschlagen, die bisher selbst über die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen, über Zeitpunkt und Dauer des Einsatzes sowie die Höhe der Entlohnung für das Löschen der Fracht bestimmten, antwortet die Culmv, indem sie sich in den neunziger Jahren selbst eine Managerstruktur zulegt. 1997 bildete sie eine Aktiengesellschaft, die nicht nur am Kai ihre Dienste anbietet, sondern sogar das Mehrzweck-Terminal im Hafen in Eigenregie betreibt.

Der Preis, den die Schauerleute für den Erhalt ihrer Kollektivität zahlen, ist hoch. Um weiterhin selbstbestimmt und nicht nur als Handlanger auf dem Hafenterrain arbeiten zu können, müssen sie Mischgesellschaften gründen, Kapital verwalten und Bündnisse und Vereinbarungen mit dem einst verfeindeten Unternehmerlager, auch mit Fiat, schließen. Partizipation und Konsens innerhalb der Gruppe der Arbeitergesellschafter müssen nun den höheren Grad an Flexibilität ausgleichen, der notwendig wurde, um auf dem privatisierten Markt der Dienstleister konkurrieren zu können. Zudem hat sich die Anzahl der Hafenarbeiter stark verringert. 600 bis 700 Gesellschafter sind heute noch in der Culmv organisiert.

Die Transformation der Compagnie Portuali in ein Unternehmen ist der Europäischen Kommission in Brüssel, die über die Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen wacht, jedoch von jeher ein Dorn im Auge. Immer wieder kritisiert sie deren angeblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber den privaten Transportunternehmern, der in der Doppelstellung als Lieferant der Arbeitskraft einerseits und als Anbieter von unternehmerischen Dienstleistungen andererseits bestehen soll. Die Zukunft der camalli bleibt also prekär.

Deshalb werden sie sich auch am Protest gegen die bevorstehende Gipfelkonferenz der G 8 beteiligen. Immerhin haben sie bereits den Initiatoren eines Netzwerks von Globalisierungsgegnern, der Rete ControG8, ihren historischen »Aufrufsaal« für ein Widerstandsseminar zur Verfügung gestellt. In der Aula, in der früher die Handlanger für die Löscharbeiten am Kai eingeteilt wurden, trainierten die Aktivisten direkte Aktionen und simulierten Verhaltensweisen für die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit der Polizei.