»Backing Hitler« von Robert Gellately

Die Verantwortung des Projektes Deutschland

»Backing Hitler« von Robert Gellately stützt die Thesen Daniel Goldhagens: Der Holocaust war ein nationales Projekt. Beiden Historikern mangelt es jedoch an einem theoretisch fundierten Ideologie-Begriff.

Als vor etwa fünf Jahren Daniel J. Goldhagen in seinem Buch »Hitler's Willing Executioners« die geradezu banale These aufstellte, dass die Ermordung der europäischen Juden ohne die Zustimmung der großen Mehrheit der Deutschen schlicht unmöglich gewesen wäre, ging ein empörter Aufschrei durch die hiesigen Medien. Von einer Wiederauflage der überwunden geglaubten Kollektivschuldthese war die Rede, von unzulässigen Vereinfachungen und - wie um Goldhagens Thesen zu untermauern - von einem infamen jüdischen Rachefeldzug gegen die Deutschen.

Nun ist mit Robert Gellatelys »Backing Hitler« ein Buch erschienen, das sich zwar demselben Thema widmet, aufgrund seiner weniger populären Form aber nicht wie das Goldhagens dazu eignet, ex negativo die Unschuld der Deutschen am Holocaust zu postulieren. Dabei sind die Aussagen, die Gellately trifft, nicht weniger weitreichend als diejenigen Goldhagens. Die Zustimmung der Deutschen zu Hitler und zum Nationalsozialismus, und damit zu dessen Vernichtungspolitik, so die These Gellatelys, stand von 1933 bis 1945 niemals in Frage.

Nun ist diese These innerhalb der Historiographie zum Nationalsozialismus nicht völlig neu. Gellately kann sich auf Vorarbeiten beispielsweise von Ian Kershaw und Detlef Peukert berufen. Dennoch behauptet der Mainstream der Geschichtswissenschaft weiterhin, dass sich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nur hat durchsetzen lassen, indem man sie vor der deutschen Bevölkerung verschwiegen oder diese zum ohnmächtigen Zuschauen gezwungen habe. Gellately legt nun erstmals eine systematische Studie über das Verhältnis von Zustimmung und Zwang vor, und seine Ergebnisse sind eindeutig.

Die Studie widerlegt zunächst detailliert die Behauptung, dass sich die Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen im Geheimen abgespielt hätten. Gellately trägt dafür Unmengen von Zeitungsberichten und öffentlichen Darstellungen zusammen, die es keinem Deutschen erlaubten, das Ausmaß und die Brutalität der Verfolgungspolitik zu ignorieren. Die Art und Weise, wie über den Polizei- und Gestapo-Terror, über Konzentrationslager und über rassistische und antisemitische Aktionen berichtet wurde, zeigt, dass die Machthaber mit einer breiten Zustimmung zu dieser Politik rechnen konnten.

Gellately geht aber noch einen Schritt weiter. Nicht nur das Wissen und die Zustimmung kann er den Deutschen nachweisen, sondern auch ihre aktive Teilnahme. Ausgehend von seinen früheren Studien zur Gestapo, untersucht er das Ausmaß der Mitarbeit der deutschen Bevölkerung an der Verfolgung von Juden, so genannten Fremdarbeitern und »arischen« Volksfeinden. In allen drei Fällen kommt er zu dem Ergebnis, dass die große Mehrzahl der Verfolgungen nicht auf Leistungen der Gestapo oder anderer nationalsozialistischer Institutionen zurückging, sondern auf die Initiative der »normalen Deutschen«.

Gellately zieht die Schlussfolgerung: »Ohne die aktive Kooperation der Bevölkerung wäre es für die Gestapo so gut wie unmöglich gewesen, diese Form von Rassenpolitik durchzusetzen.« Das Buch zeichnet ein eindringliches Bild der Beteiligung der »normalen Deutschen« an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Neben der Judenverfolgung untersucht er noch zwei wichtige Bereiche an. Zum einen die Politik gegenüber so genannten »sozialen Außenseitern«, insbesondere Behinderten, Homosexuellen sowie Sinti und Roma. Zum anderen die Etablierung eines dichten Netzes von Konzentrations- und Arbeitslagern in Deutschland, teilweise mitten in den Städten und Dörfern.

Die wenigen anderen Studien zu dieser Frage, etwa Frank Bajohrs Untersuchung über das private Profitieren an der »Arisierung« genannten Ausplünderung der Juden in Hamburg, unterstützen Gellatelys These. Unter dem Strich lässt sich damit auch empirisch nachweisen, was bislang als Affront kritischer Theorie gegen Deutschland abgetan werden konnte: dass nämlich der Nationalsozialismus, dass mithin die rassistische Vernichtungspolitik ein gesamtgesellschaftliches, ein nationales Projekt war.

Damit wäre beinahe wörtlich die zentrale These Daniel Goldhages zitiert. Gellately gehörte denn auch nie zu den Historikern, die die Arbeit Goldhagens in Bausch und Bogen verdammten. Dennoch distanziert er sich in der Einleitung zu seinem Buch von Goldhagens Thesen und wirft ihm eine »monokausale« Argumentation vor. Die zentrale Frage Goldhagens nach den Motiven der Täter stellt Gellately zwar auch, er kommt jedoch zu anderen Ergebnissen.

Nicht in erster Linie aufgrund einer Übereinstimmung mit der rassistischen und antisemitischen Ideologie der Nazis hätten sich die Deutschen an der Verfolgung und Vernichtung von »Volksfeinden« beteiligt, sondern zum einen aus dem Bedürfnis nach Normalität und Stabilität nach Jahren der Krise, zum anderen aus egoistischen und instrumentellen Interessen.

Tatsächlich spricht sehr viel dafür, dass ein Großteil der Deutschen die Nazis nach 1933 als Garanten für Ruhe und Ordnung betrachteten und deshalb ihre terroristischen Maßnahmen gegen politische Gegner guthießen und unterstützten. Für diese »normalen Deutschen« war der Nationalsozialismus nicht durch Rechtlosigkeit und Willkür gekennzeichnet, sondern durch staatliche Autorität und internationale Erfolge. Gellately übersieht jedoch, dass auch diese Haltung eine grundsätzliche ideologische Übereinstimmung voraussetzt. Denn man musste nicht nur den autoritären Staat und die nationalistische Außenpolitik befürworten, sondern auch, dass Recht und Ordnung für bestimmte Gruppen der Bevölkerung, für »Marxisten«, für »Asoziale« und vor allem für Juden, nicht galten. Die Vorstellung von Ordnung, die die Deutschen von den Nazis durchgesetzt sahen, war selbst zutiefst rassistisch und antisemitisch geprägt.

Von daher kann auch Gellatelys Argument nicht überzeugen, dass der Antisemitismus vor der »Machtergreifung« und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe und sich erst mit der Zeit steigerte und radikalisierte. Man muss nicht wie Goldhagen von einem antisemitischen »Nationalcharakter« ausgehen, um festzustellen, dass der Antisemitismus in Deutschland eine lange und fest verwurzelte Tradition hat. Auf diese Tradition konnten die Nationalsozialisten zurückgreifen, als es darum ging, den Rassenstaat in Deutschland zu installieren.

Ohne diese ideologischen Vorgaben wäre auch kaum zu erklären, weshalb so viele Deutsche die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik dazu nutzten, persönliche Vorteile zu ergaunern, sei es, dass man den Konkurrenten am Arbeitsplatz des verbotenen Rundfunkhörens bezichtigte oder sich das Eigentum des jüdischen Nachbarn unter den Nagel riss. Der Befund, dass der Anteil der Denunziationen bei der nicht rassistisch motivierten Verfolgung größer war als bei der Verfolgung von Juden, ist, wie Gellately selbst zugibt, wohl eher auf den größeren staatlichen Enthusiasmus zurückzuführen, wenn es um rassenpolitische Maßnahmen ging. Darüber hinaus stand auch die Denunziation des »arischen« Nachbarn im Kontext der Ideologie vom »gesunden Volkskörper«, die dem »Volksgenossen« alle Privilegien sicherte, während sie für »Volksfeinde« und »Gemeinschaftsfremde« am Ende nur die Vernichtung vorsah.

Insofern zeigt sich bei Gellately ein Mangel, der auch Goldhagens Studie zu einer ambivalenten Angelegenheit gemacht hatte: Beiden fehlt ein theoretisch fundierter Begriff von Ideologie. Während Goldhagen sich mit einem traditionellen geistesgeschichtlichen, also unhistorischen Konzept behalf, tendiert Gellately dazu, Ideologie fast schon klassisch marxistisch als rein instrumentelle Kategorie zu nehmen. Beiden entgeht dabei, dass Ideologie eine Form von Vergesellschaftung ist, die menschliches Handeln und soziale Strukturen nicht nur interpretiert, sondern auch konstituiert. Vor dem Hintergrund einer solchen Ideologietheorie gewännen Gellatelys wichtige Erkenntnisse noch an kritischer Schärfe. Statt um ein moralisches ginge es um ein historisches Problem, statt um die Verantwortung vieler einzelner Deutscher ginge es um die Verantwortung des Projektes Deutschland.

Robert Gellately: »Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany«. Oxford University Press 2001, 378 Seiten, £ 19,90