Bewegung für potenzielle Literatur

Braver Aufsatz über Oulipo*

(* Mit Anmerkungen). Gattungen erschaffen statt einer Gattung zu dienen: Die Bewegung für potenzielle Literatur wird zu Unrecht vernachlässigt.

Literatur, vor allem »schöne Literatur« (im Unterschied zum Angler-Lexikon) wird üblicherweise kollektiv, das heißt: vom randalierenden Autorenpack, der peniblen Kritik und der leidenden Leserschaft gemeinsam erschaffen. Die Arbeitsteilung ist klar wie ein Räumungsbefehl: 1.) Das Autorenpack mährt sich über Seiten erbarmungslos aus und serviert der Welt ein zähes Gebräu, in welchem hochfliegende Gedanken, langatmige Schilderungen, aufklappbare Sätze und anrührende Stimmungen herumschwimmen; 2.) die Kritik fühlt sich (nach einem Wort des weisen Kritikers John Clute) sofort berufen, die dabei entstehenden Texte »in ihrem wahren Wesen zu enthüllen, nachzudichten und von ihren Urhebern zu befreien«; 3.) die Leserschaft schließlich muss den ganzen dampfenden Auflauf würgend und schlingend vertilgen, damit es zügig weitergeht (»Rezeptionsgeschichte«).

Wenn nun irgend ein Buchhalter oder auch mal ein gewiefter Saboteur einen Stock in diese übersichtliche Dreieinigkeit steckt und, damit herumrührend, flugs den ganzen Laden durcheinanderbringt, sodass etwa der Kritik plötzlich Autorenaufgaben zuwachsen, die Autorschaft auf einmal anfängt, alles mögliche zu lesen, oder gar das Lesevolk in seiner »Bereitschaft zur Kritik« ermutigt werden soll, dann spricht man seit nunmehr auch schon wieder deutlich über hundert Jahren von »Avantgarde«.

Stock hin, Durcheinander her: Das letzte Wort behält natürlich trotzdem die oben unter »3.)« abgeheftete Rezeptionsgeschichte - wäre ja noch schöner. Rezeption? Geschichte? Wer sich lieber auf einer mit den richtigen Leuten, Drogen und Sounds bestückten Sommerabendparty aufhält als im Kältelager eines Wachsfigurenkabinetts, den oder die weht so manch eiskalter Hauch an, wenn er oder sie sich das triste Nachleben einiger prominenter Avantgardegrüppchen vergegenwärtigt, die einst von allerlei feurigen, kaustischen oder wenigstens beknackten Geistern ins Leben gerufen wurden.

Die Romantik heißt heute Gothic und schlürft antimoderne Magensäure, der Naturalismus ist durch schlecht journalistische oder doof bekennende Skandalliteratur auf den Hund gekommen, der Expressionismus kreischt in Form von bimsigen Rammstein-Textfetzen durch die schwarrrrrze Nacht, der Situationismus treibt irgendwelche müden Faxen im Internet, und der Surrealismus ... also im Ernst: Wenn man heutzutage offenen Geistes und ausgeschlafenen Hirns einstmals aufwühlende Zeilen liest wie: »Ihr Geschlecht klaffte in ihren abgründigen Augen« (der Volltreffer stammt von einem gewissen de Chazal, könnte aber auch von Breton sein), was packt einen dann noch großartig anderes als Kitsch-Epilepsie und Ödheits-Scham? (Glaubt der Verfasser wirklich, es wäre Argument genug, das Zitat könne auch von Breton stammen? Anm. d. Red.)

Verflossene literarische Bewegungen sind am Ende meist nur mehr eins: verflossene literarische Bewegungen. Es mag sich dann die halbe Uni streiten, wann sie eigentlich angefangen haben, ihr Todesdatum ist jedenfalls kinderleicht zu ermitteln: exakt der Tag, an dem besagter Streit um ihre wahren Ursprünge losgeht. Bei »Oulipo« jedoch, jenem »Ouvroir de Littérature Potentielle«, den in seiner ganzen Glorie der Aufmerksamkeit sämtlicher Menschen, die gerade diesen Text hier scannen, von Herzen zu empfehlen der Zweck vorliegender Sätze ist, verhält es sich anders. Hier nämlich hat man es endlich mal mit einem literarischen mouvement zu tun, bei dem einfach alles stimmt. Klingt unglaubwürdig? Ist aber wahr.

Zunächst einmal käme nur ein ausgesucht böswilliger Obskurantist auf die Idee, sich mit der dummen Frage aufzuhalten, wann diese sehr gescheite Gruppe, die noch heute existiert, eigentlich das Licht der Welt erblickt hat. Im runden Jahr 1960 nämlich war's, als aus Anlass von Feierlichkeiten zu Ehren des abtrünnigen Surrealisten Raymond Queneau im Château von Cerisy-la-Salle der dort Geehrte zusammen mit dem nicht minder ausgefuchsten Francois Le Lionnais und im Zuge von etwas, dass sich prima pompös »eine neue Verteidigung und Illustration der französischen Sprache« nannte, eine völlig originel-le, sagenhaft revolutionäre und ungemein schwammige Angelegenheit namens »Séminaire de Littérature Expérimentale« ausrief.

Da Monsieur Le Lionnais, der in seiner Jugend mit Max Jacob und Jean Dubuffet verkehrt hatte, später »in die Wirtschaft«, noch später in die Résistance, viel später zur Unesco gegangen war und im Alfred-Jarry-beeinflussten »College der 'Pataphysik« (man beachte den Apostroph vor dem Hauptwort!) mitgesponnen hatte, im Allgemeinen weit mehr von den kühlen Konstruktivismen der Mathematik als von irgendwelchen schmuddeligen »Experimenten« hielt, ließ man den unbeholfenen ursprünglichen Namen »Experimentelles Literaturseminar« zum Glück bald wieder fallen.

Statt »experimenteller« sollte es fortan eine entscheidende Stufe abstrakter um »mögliche« Literatur gehen, was den Vorteil hatte, dass man sich darunter einerseits zwar fast alles vorstellen konnte, eben deshalb aber andererseits auch ordentlich ranklotzen musste, um aus dem vagen Anspruch eine blühende Realität zu gestalten. (Der Verf. lässt sich ganz schön Zeit, mit dem Witz rauszurücken. Anm. d. Red).

Das technische Zauberwort, mit dem die Oulipiens, zu denen außer Franzosen rasch Geistesverwandte aus aller Herren Länder stießen, antraten, überkommene Schreibweisen zu sprengen, hieß Beschränkung. Die hochenergetische Hochzeit von Freiheit (»Das Potenzielle«) und Notwendigkeit (»Beschränkung«) im Medium der willkürlich aufgestellten, dann aber eisern durchgehaltenen Regel erwies sich rasch als äußerst fruchtbar, weil es die Binnen- und Anschlussoptionen des Schreibens in ungeahntem Ausmaß vervielfältigte.

Oulipo war und ist daher keine Gattung, sondern erschafft Gattungen, und zwar in unerschöpflicher Füllhornflut: Gedichte, deren Worte als Anfangsbuchstaben die chronologisch geordneten Lettern des Alphabets zieren, Übersetzungen von Kochrezepten in die Sprache romantischer Oden und umgekehrt, Prosa zur Erprobung babylonischer Bilingualitäts-Monster wie das vom Oulipien Harry Matthews ersonnene »Franglais« (eine Technik, Bastardsätze zu erzeugen, die zugleich auf Englisch und Französisch einen Sinn ergeben: »Mets attend the sale«/ »Mets attend thé salé«), Dialoge und Beschreibungen ohne den Buchstaben »e«, sklavisch aus restringierten Vokabularen aller Art schöpfende Erzählungen ...

Die Oulipiens waren und sind nach einer viel zitierten, aber selten in ihrer ganzen Konsequenz und Verbindlichkeit verstandenen Bemerkung Raymond Queneaus, »Ratten, die das Labyrinth selbst konstruiert haben, dem sie zu entkommen versuchen«. Ratten von durchaus unterschiedlicher Prominenz und Qualität übrigens - ich nenne einige der besten, nicht notwendig auch meistgelesenen: Natürlich Queneau und Le Lionnais selbst, dann Georges Perec, Harry Matthews, Ian Monk (der erst 1998 zum Gruppenmitglied wurde) und schließlich Italo Calvino.

Vor allem Calvino hat immer wieder den Beweis erbracht, dass sich im Oulipo-Rahmen umfangreiche, strukturell komplexe und fordernde Werke realisieren lassen, die weit über die bleichen Novelty-Gags und die holde Wortspiel-Pein zahlreicher »experimenteller« Konkurrenten hinausgelangen.

Calvinos vielleicht bestes Buch, der Roman »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« aus dem Jahre 1979, handelt von dem Versuch eines konsequent in der zweiten Person angeredeten Lesers, den Roman »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« von Italo Calvino zu lesen bzw. überhaupt erst einmal in die Finger zu bekommen. Der besagte Held (sozusagen das Roman-Du, analog etwa dem berühmten lyrischen Ich) besitzt nur eine korrumpierte Ausgabe des Romans, später dann mehrere Ausgaben, die aber andauernd nichts als bizarre Romananfänge bieten, welche zwar ins Leere laufen, aus denen der »richtige« Roman dann aber eben doch besteht. Genau wie die Titel jener Anfänge, nacheinander gelesen, wiederum einen vollständigen Romantitel ergeben, der allerdings ... Man ahnt, wo's hinläuft, und da läuft es dann auch wirklich hin, unausweichlich, ohne Gnade: »Leser, es ist an der Zeit, dass dein sturmgebeuteltes Schiff einen Landeplatz findet. Welcher Hafen könnte dich sicherer aufnehmen als eine große Bibliothek?«

Der scheinbare Schönheitsfehler, dass sich dieses Buch mit seinem männlichen, heterosexuellen Du an ziemlich einfallslos konzipierte Allerweltsmänner richtet, wird dadurch wettgemacht, dass das Buch sich andererseits dann doch nicht an Männer, nämlich im Grunde überhaupt gar nicht an Menschen richtet. Liest man es genau, stellt man fest: Das Buch erzählt sich seine Geschichte eigentlich bloß selbst.

Was das dauernd penetrant intim angeredete Du wirklich gerade treibt, ist ja komplett egal, während die Erzählung ihm aber doch fortlaufend irgendwelche Handlungen und Gedanken unterstellt. So fühlt sich auch die, na sagen wir: männliche Leserin des Werks früher oder später wie die schizophrene Gattin eines paranoiden Solipsisten, den es nicht gibt, und wer das nicht versteht, muss sofort zum Arzt. (Der Verf. übertreibt schon wieder. Außerdem ist dies hier schon die dritte angebliche Anmerkung der Redaktion, die in Wirklichkeit vom Verf. stammt. Anm. d. Red.)

Im besten Sinne des Wortes technische Errungenschaften der höheren Erzählkunst wie »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« allein wären schon Rechtfertigung genug fürs oulipiensische Konzept. Erwähnt werden sollte aber auch, dass dessen Fruchtbarkeit sich nicht aufs Terrain der schönen Literatur allein erstreckt.

Feldeffekte vermehrten sich bald nach Geburt der Idee und der Gruppe karnickelartig, sowohl was die Wechselwirkung mit zeitgenössischen anderen Gruppen auf anderen Jahrmärkten anging - die Mathematiker der »Bourbaki«-Gruppe, die versuchten, die gesamte Mathematik mengentheoretisch umzuformulieren, interagierten ebenso mit den (sie gelegentlich ironisierenden) Oulipiens wie die Gelehrten um Tel Quel -, als auch die Eroberung anderer künstlerischer Produktionsmodi. Im Zuge der Letzteren entstanden so unter anderem die potenzielle Malerei mit Namen »Oupeinpo«, der potenzielle Kriminalroman Marke »Oulipopo« und der potenzielle Comic »Oubapo«.

Dass die Bewegung lebt, statt im Bastelkeller zu verrotten, dafür mehren sich jüngst wieder die Anzeichen - literarische Newcomer wie der Amerikaner Mark Z. Danielewski (»House of Leaves«) bedienen sich der entsprechenden Schreibmodi mit großer Selbstverständlichkeit, die Produktion der eigentlichen Gruppenmitglieder reißt nicht ab, und eben erst, nämlich im Maiheft 2001, hat das nicht gerade eine Bastion des Abseitigen darstellende französische magazine littéraire den Oulipiens ein über 50 Seiten (!!!) dickes Dossier (i.e. die halbe Ausgabe) gewidmet, aus welchem man u. a. die weltbewegende Tatsache erfahren konnte, dass in Gestalt einer gewissen Anne F. Garreta im April 2000 das erste Oulipo-Mitglied der Gruppe beigetreten sei, das nach der Gründung des Vereins, nämlich im Jahre 1962, geboren worden sei.

Was manche und manchen an all dem abstoßen mag, nämlich die zwangsneurotische Spielsucht, die Automatisierung der Produktion, die Enthaltsamkeit in Sachen Weltverbesserung, die Sektenhaftigkeit und der todernste Humor, das alles sind, hier sei's verraten, zugleich diejenigen Eigenschaften der Bewegung, die sie anziehend, lebensfähig und zeitgemäß machen. (Warum erzählt er uns das alles? Kann der Verf. diese Behauptung beweisen? Anm. d. Red.)

Ich erzähle das alles, weil ich der Meinung bin, dass man in den eben genannten Eigenschaften des Oulipo unsere ästhetische Gegenwart mit höchstmöglicher Bildauflösung wiedererkennt - eine Gegenwart, in der Verwissenschaftlichung, Ästhetisierung, Verbissenheit und morbide Spaßbereitschaft den Zeichen-Alltag prägen, während über dem Ganzen die ständige Drohung schwebt, die komplette tolle technokapitalistische Zivilisation stehe eigentlich längst am (psycho-) ökonomischen Abgrund, wo das Sinnvolle ins Sinnwidrige kippt und die Regeln, denen man gehorcht, purer Schwachsinn werden.

Man wird den Verdacht nicht los, dass bloß mal jemand sagen müsste: Lasst uns ein anderes Spiel spielen, Leute, dieses hier ist ausgereizt, und schon wäre alles anders. (Der Verf. scheint allmählich auf den Punkt zuzusteueren, wo außer dem Sinn seines Textes auch der Sinn absurder Anmerkungen wie dieser hier transparent werden dürfte. Anm. d. Red.)

In Zeiten, die so aussehen, wie ich das eben beschrieben habe, mag sich daher das verbleibende Quentchen ästhetischer Manövrierbereitschaft von unsereinem möglicherweise gewinnbringend regenerieren, wenn man ihm etwas von dem Geist zuführt, der den Oulipo geboren hat.

Ich denke dabei vor allem an Früchte oulipiensischen Raffinements wie die »Polyasche Beschränkung«, die darin besteht, dass ein Text den Eindruck erweckt, einer bestimmten Regel A zu gehorchen, dann zur Regel B umzuschwenken scheint und schließlich in der ganz gewöhnlichen Konvention C mündet - wie etwa im Fall des Textes, der hier gerade steht: Offenbar ein Text der Sorte, die am Ende eben schnell noch erklärt, wie sie funktioniert. (Nämlich u.a. als Beweis der Behauptung, dass »Text« und »Anmerkung« ebenso wie »Technik« und »Witz« zwei aufeinander irreduzible Seiten zweier gleichwohl höchst unscharfer Unterscheidungen sind, die man aber, wenn man sie immanent angreift, eigentlich nur bestätigten kann, weshalb sie am Ende dieser oulipiensischen Fingerübung umso gestärkter aus der ganzen Tortur hervorgehen. Anm. d. Verf.)