Soziale Proteste setzen die Regierung unter Druck

Warten auf James Brown

Bei den Weltfestspielen der Jugend wollte die algerische Regierung nur geladene Gäste sehen. Den wachsenden Protesten versucht sie mit sozialen Zugeständnissen entgegenzuwirken.

Du wirst keinen Jugendlichen finden im Land, der mit seiner Situation zufrieden ist. Man kann vielleicht die kleine, privilegierte Jeunesse dorée ausnehmen, aber die verbringt ihre freie Zeit ohnehin lieber im westlichen Ausland.« Raschid ist Medizinstudent, und auch die Umsitzenden, die beifällig nicken, haben fast alle Jobs als höhere Angestellte in öffentlichen Unternehmen, als Ingenieure oder Versicherungsangestellte. Sie gehören nicht zu den unzähligen »Hittistes«, jenen, die nichts anderes zu tun haben, als die Mauern (arabisch Hita) mit ihrem Rücken zu stützen.

Stunden zuvor standen wir inmitten der Menschenmassen, die zum Abschlusskonzert der Weltfestspiele der Jugend strömten. Am Donnerstag vergangener Woche wurde das Spektakel in realsozialistischer Tradition, das zum ersten Mal in einem afrikanischen und arabischen Land stattfand, in der Universität Babezzouar am Westrand von Algier beendet. Zehntausende Zuschauer warteten vergeblich auf den angekündigten Auftritt von James Brown. Der US-amerikanische Soulstar hatte abgesagt.

Die algerische Jugend blieb in ihrer Mehrheit vom Festival ausgeschlossen. Lediglich die Auftaktveranstaltung am 8. August im »Stadion des 5. Juli« stand der Bevölkerung offen. Doch der Tag war vor allem vom enormen Polizeiaufgebot geprägt, das die kabylischen Demonstranten aufhalten sollte, die es bis in die Hauptstadt geschafft hatten (Jungle World, 34/01). Für die anderen Veranstaltungen wie auch für das Freiluftkonzert zum Abschluss waren Einladungen erforderlich. Allerdings landete ein großer Teil der von regimenahen Jugendverbänden verteilten Eintrittskarten auf dem Schwarzmarkt.

Während der Festspiele versuchte die Regierung dafür zu sorgen, dass keine abweichenden Stimmen das gewünschte Bild stören. Das Aktionsbündnis der Jugend, dessen Kürzel Raj ausgesprochen wie »Rage« (»Wut«) klingt, organisierte bereits am vergangenen Mittwoch zwei Sit-Ins, um auf die Repression und das frauenfeindliche Familiengesetz aufmerksam zu machen. Das oppositionelle Jugendbündnis, das ein Spektrum von Anhängern des kabylischen FFS ebenso wie Marxisten umfasst, protestierte gegen den »Karneval« des Regimes, der ihm im Ausland ein freundliches Image verleihen solle. Doch am Mittwoch wurden alle Teilnehmer des Sit-Ins verhaftet, und am Donnerstag schlugen Angehörige staatsnaher Jugendverbände oder Zivilpolizisten den Raj-Generalsekretär Hakim Addad vor den Augen internationaler Gäste zusammen.

Die Ansichten der Umsitzenden über das Festival sind geteilt. Die Mehrzahl meint, es sei nur eine Fassade, ohne Bezug zum alltäglichen Leben der Jugend und es sei auch nicht für sie bestimmt. Aber es gibt auch andere Meinungen. Zumindest könne die Vorstellung ausgeräumt werden, in Algerien gebe es eine mit Afghanistan vergleichbare Situation, meint der Medizinstudent Raschid. Eine verzerrte Wahrnehmung habe lange dazu beigetragen, die algerische Gesellschaft von Frankreich und anderen Ländern zu entfernen. Andere werfen ein, der große Andrang würde beweisen, welcher Bedarf an kultureller Abwechslung im Land nach zehn Jahren Bürgerkrieg und relativer Isolation herrsche. Keiner der Anwesenden betrachtet die Lage jener 75 Prozent im Lande, die jünger als dreißig sind, auch nur als zufriedenstellend.

Um die Funktionsweise des algerischen Systems zu beschreiben, bemüht der Techniker Hamid eine verbreitete Anekdote: Ein italienischer Architekt lädt einen algerischen Kollegen ein und zeigt ihm seine prächtige Villa. »Wie hast Du das geschafft«, fragt ihn der Algerier, der in den letzten Jahren arbeitslos war. »Ganz einfach«, antwortet der Italiener, »siehst Du die Brücke da hinten? Sie war mit einer Länge von 2,1 Kilometern geplant. Ich habe zwei Kilometer gebaut, und mit dem Rest meine Villa eingerichtet. So funktioniert das bei uns.« Neidisch fährt der Algerier nach Hause. Zwei Jahre später, er hat sich inzwischen gute Beziehungen aufgebaut, lädt er seinen Kollegen nach Algerien ein. Dort hat er sich einen Palast hingestellt, der den seines Kollegen bei weitem übertrifft. »Wie hast Du das gemacht«, fragt ihn der Italiener. »Ganz einfach«, lautet die Antwort, »siehst Du die Brücke da hinten?« Der Italiener verneint. »Eben«, antwortet der Algerier, »dort hinten sollte eigentlich eine Brücke stehen.«

Ein Jahrzehnt der halbmafiösen Plünderungsökonomie hat Algerien geprägt. Die verschiedenen Fraktionen der Oligarchie teilen sich die Macht und die Monopollizenzen für den Import westlicher Waren. Aus der ehemaligem Nomenklatura der staatssozialistischen Ära unter der Einheitspartei FLN (1962-1989), vor allem aber aus dem Militär hervorgegangen, versuchen die Oligarchen nun, das Korsett der ehemaligen Entwicklungsdiktatur abzustreifen. In vielen Bereichen wird der öffentliche Sektor gezielt heruntergewirtschaft, um die Notwendigkeit der Privatisierung zu beweisen.

So ist zur Zeit beispielsweise die Wasserversorgung in der Hauptstadt Algier und in anderen größeren Städten katastrophal. Jeden zweiten oder dritten Tag haben die Bewohner Algiers nur für einige Stunden - meist nachts - fließendes Wasser. Für die restliche Zeit wird das Wasser in Bottichen und Tonnen gesammelt. Wer tagsüber duschen will, muss sich einer Schöpfkelle bedienen. Dass die meisten Familien extrem beengt wohnen, macht die Lage nicht angenehmer - zehn Personen in zwei Zimmern sind in Algier eher die Norm als die Ausnahme. Eine Ursache der Wasserknappheit ist, dass seit der Unabhängigkeit von 1962 keine neuen Stauseen angelegt wurden und die vorhandenen mangels Instandhaltung zu verschlammen beginnen.

Seit einigen Monaten aber scheint die Regierung ihre Politik zu überdenken. Nach Streiks Ende März (Jungle World, 19/01) zögert sie nun, die Zerschlagung des öffentlichen Sektors fortzusetzen. Anfang April wurde der Plan, den Ölproduzenten Sonatrach - das Herzstück der algerischen Wirtschaft - zu privatisieren, auf Eis gelegt. Und etwa 7,5 Milliarden der zwölf Milliarden Dinar (umgerechnet etwa 150 Millionen Euro), die der hohe Ölpreis im vergangenen Jahr an zusätzlichen Einnahmen gebracht hatte, flossen in einen neuen nationalen Entwicklungsplan. Erste Stauseen werden nun entschlammt. Gleichzeitig wurde ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm aufgelegt. Da sich die rege Bautätigkeit des privaten Sektors an den Bedürfnissen der zahlungskräftigen Bevölkerungsschichten orientiert, stehen in Algier vor allen Registrierungsbüros für staatlich subventionierten Wohnraum die Menschen in langen Reihen.

Als der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika im Juli die USA besuchte, wurde er von Präsident George W. Bush wegen des Entwicklungsplans getadelt. Auch IWF-Vertreter äußerten scharfe Kritik und sprachen von einer unseriösen Haushaltspolitik. Doch derzeit macht sich die Regierung mehr Sorgen über die Unruhe der Bevölkerung als über den Unwillen westlicher Finanzinstitutionen. Vor allem die Tatsache, dass der Gewerkschaftsdachverband UGTA im März gezwungen war, an den Streiks teilzunehmen, war für die Regierung ein Alarmsignal. Um unkontrollierbare Revolten zu vermeiden, musste die staatsnahe, aus der FLN-Zeit stammende Gewerkschaftsführung in dieser zugespitzten Situation der Basis entgegen kommen.

Dennoch fällt es dem UGTA-Apparat immer schwerer, sich unerwünschter Konkurrenz zu erwehren. Seit mehr als 14 Tagen befinden sich zehn Kader der unabhängigen Gewerkschaft der Staatsbeschäftigten (SNAPAP) im Hungerstreik. Sie fordern, dass die Regierung ihre Gewerkschaft endlich neben der bisherigen Monopolorganisation UGTA anerkennt. Im Falle eines Erfolges will die Gewerkschaft, die derzeit rund 500 000 Beschäftigte im öffentlichen Sektor organisiert, ihre Tätigkeiten auch auf die Privatindustrie ausdehnen.

Während in der Sozialpolitik einige Zugeständnisse gemacht werden, arbeitet die Regierung weiter an der Niederschlagung der seit Ende April von der Kabylei ausgehenden Bewegung. Ihre Niederlage wäre auch ein Rückschlag für die gesamte soziale Protestbewegung, deren Gruppierungen derzeit noch unabhängig voneinander agieren. Sollten sie sich zusammenschließen, könnte die Situation in den kommenden Wochen brisant werden.

*Alle Vornamen wurden von der Redaktion geändert.