Bei Ankunft Todesschuss
Polizeidienststelle Aschaffenburg, zwei Uhr morgens. Ein Anrufer fordert Polizisten an, um bei einem Ehestreit einzugreifen. Der Mann will seine Frau aus der Wohnung werfen lassen. Was die Beamten zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Der Anrufer ist deutscher Staatsbürger weißer Hautfarbe, seine Frau kommt aus dem Senegal und ist schwarz. Die in Trennung lebenden Eheleute Wegener haben einen zweijährigen Sohn, über dessen Wohnort sie streiten. Mareame Sarr, die wieder ihren Geburtsnamen benutzt, will das Kind abholen, das einige Tage bei seinem Vater verbracht hat. Der Junge befindet sich aber nicht in der Wohnung des Vaters, sondern bei dessen Eltern. Der Mann hat wenige Tage zuvor ohne das Wissen seiner Frau das alleinige Sorgerecht für das Kind beantragt. Im Laufe der nächtlichen Auseinandersetzung holt er schließlich die Polizei.
Die zwei herbeigerufenen Polizisten können Mareame Sarr nicht dazu bringen, die Wohnung zu verlassen. Was dann geschehen sein soll in der Nacht des 14. Juli 2001, schildert die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg in einer Presseerklärung so: »Die kräftig gebaute Frau rannte plötzlich in die Küche, ergriff ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 20 Zentimetern und stach damit in der Küche auf den ihr nacheilenden Polizeibeamten ein. Dieser konnte den Stich mit seinem Funkgerät abwehren, wurde aber am Handgelenk leicht verletzt. Als sie erneut versuchte, auf den durch den ersten Angriff noch nach hinten gebeugten Polizisten einzustechen, forderte sie der zweite Polizeibeamte, der mittlerweile zur Eingangstüre der Küche nachgefolgt war, durch Zuruf auf, das Messer wegzulegen, sonst werde er schießen. Da Frau Wegener hierauf nicht reagierte, gab er aus einer Entfernung von ca. 1,5 Metern einen Schuss ab, der die Frau in die Schulter des messerführenden Armes traf.«
An den Folgen dieses Schusses stirbt Mareame Sarr, sie verblutet in der Klinik. Für die Staatsanwaltschaft und die Polizei in Aschaffenburg ist der Fall klar. Es habe sich eindeutig um eine Nothilfesituation gehandelt, in der dem Beamten keine andere Möglichkeit als der Schuss geblieben sei. »Wegen der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse war es nicht möglich, die Frau auf andere Weise vom erneuten Zustechen abzuhalten«, behauptet die Staatsanwaltschaft.
Es gibt jedoch erhebliche Zweifel an dieser Version des Ereignisses. Alexander Ngnoubamajum von der Black Students' Organisation (BSO) bezeichnet den Todesfall als »Mord« und sieht ihn als ein »Produkt des institutionellen Rassismus in Deutschland«. Auf einer Kundgebung Ende Juli in Aschaffenburg, die von der BSO, von SOS Struggles of Students, der African Refugees Association (ARA) und der Initiative Schwarze Deutsche organisiert worden war, verurteilte Ngnoubamajum die Brutalität der Polizei gegen Schwarze und Ausländer und kündigte an, die Proteste würden so lange weitergehen, bis die Schuldigen dieses »Verbrechens« zur Rechenschaft gezogen worden seien. Amy Evans, die für die afrikanische Community in Berlin sprach, bezeichnete den Vorfall als »symptomatisch für eine Nation, die krank vor Hass ist«. »Es war der Rassismus im Staatsapparat, der sie (Mareame Sarr, S.W.) wie eine Kriminelle erscheinen ließ, nur weil sie bei ihrem Ex-Ehemann ihren Sohn suchte«, wird Evans vom African Courier zitiert, einer englischsprachigen Zeitung für in Deutschland lebende Afrikaner.
Tatsächlich stellen sich einige Fragen zum Geschehen in jener Nacht. Wieso gelang es den Beamten nicht, die Frau zu beruhigen? Haben die Beamten das Interesse der Frau, ihren Sohn abzuholen, berücksichtigt? Wieso konnten sie Mareame Sarr nicht mit einer weniger drastischen Maßnahme von ihrem Angriff abhalten? Warum schoss der Polizist auf ihren Oberkörper und nicht auf Körperstellen, deren Verletzung nicht den Tod nach sich gezogen hätte?
Ngnoubamajum bezweifelt, dass es sich hier um Nothilfe gehandelt habe. »Es kann nicht sein, dass zwei Beamte die Frau nicht beruhigen können und sie erschossen werden muss«, sagte er der Jungle World. Er findet es skandalös, dass der Polizist nicht vom Dienst suspendiert worden ist, und beklagt, dass der Fall von den Medien totgeschwiegen wird.
Möglicherweise ist der Tod Mareame Sarrs aber nicht nur den rassistischen Zuständen, sondern auch der Verwendung einer neuartigen Munition durch die bayerische Polizei geschuldet. Wie die taz am 12.August berichtete, hat Bayern im Oktober des vergangenen Jahres die so genannte Polizei-Einsatz-Patrone (PEP) eingeführt. Im November 1999 hatte die Innenministerkonferenz die Verwendung dieser Deformationsgeschosse beschlossen. Wegen ihrer »Mannstopp-Wirkung« werde der Angreifer sofort angriffsunfähig gemacht. Dritte Personen seien weniger gefährdet, da die Kugeln nicht wieder aus dem Körper austreten und andere Personen verletzen können, wie es bei herkömmlichen Projektilen der Fall war.
Die Verwendung dieser Munition könnte zum Tode Sarrs beigetragen haben. Die Senegalesin verblutete, nach Angaben der Staatsanwaltschaft hätten Knochensplitter große Blutgefäße zerstört. Eine ähnliche Wirkung aber entfaltet auch die PEP im Körper der getroffenen Person. Der Berliner Professor für öffentliches Recht, Oesten Baller, warnte in der taz vor der »irreversiblen Schädigung des Körpergewebes« und davor, »dass zentrale Blutgefäße getroffen werden«.
Das Bayerische Innenministerium weist diese Darstellung zurück. »Der Tod wäre mit jeder anderen Munition auch eingetreten«, behauptet der Pressesprecher des Ministeriums, Michael Ziegler. »Munition schädigt den Körper immer.« Zieglers Schlussfolgerung lautet: »Es ist eben gefährlich, einen Polizisten mit dem Messer anzugreifen. So brutal und einfach ist das.« Und noch brutaler und einfacher ist das offensichtlich, wenn eine »kräftig gebaute« schwarze Frau aus Afrika, die Angst hat, ihren Sohn zu verlieren, so etwas tut.
Die Erschießung Mareame Farrs steht in einer Reihe ähnlicher Todesfälle der vergangenen Jahre. So wurde 1994 der türkische Jugendliche Halim Dener beim Plakatekleben in Hannover von einem Polizeibeamten durch einen Schuss in den Rücken getötet. 1996 erschoss eine Polizistin auf dem Bahnhof in Nürnberg einen Griechen, den sie für einen Dealer hielt. Und 1999 wurde in Braunschweig ein bulgarischer Asylbewerber von einem Sondereinsatzkommando der Polizei erschossen, weil er die Beamten in Panik mit einem Messer bedroht hatte.
Das sind nur die spektakulärsten Fälle, und in keinem davon musste der Schütze irgendwelche Konsequenzen tragen. Auch im vorliegenden Fall ist das kaum zu erwarten. Zwar hat die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg eine DNA-Analyse der Spuren auf dem Messer und ein ballistisches Gutachten in Auftrag gegeben. Aber ihr Sprecher Eberhard Becker sagte der Jungle World: »Wir gehen von Notwehr aus, und daran wird sich auch nichts ändern.«
Damit wollen sich die Migrantenorganisationen jedoch nicht zufrieden geben. Sie rufen für den 8. September um 12 Uhr erneut zu einer Demonstration vor dem Rathaus in Aschaffenburg auf.