Protestbewegung in der Kabylei

Im Herbst der Revolte

In Algerien versuchen Honoratioren und Parteien, eine soziale Radikalisierung der Protestbewegung zu verhindern.

Alle Schulbänke der Welt ähneln sich. Und so sind auch die Tische im Gymnasium der Kleinstadt M'chedallah, rund 80 Kilometer östlich von Algier, mit allerlei Sprüchen und Zeichnungen bekritzelt. Stickig und heiß ist es am Ende des algerischen Sommers in dem viel zu engen Saal, der mehrere hundert Personen aufnehmen soll. An der Vorderseite ist ein Transparent angebracht, auf dem gefordert wird, der repressiven Staatsmacht »Kein Pardon« zu geben. Ein anderes zeigt den 1998 ermordeten kabylischen Sänger Matoub Lounes, ein Idol der Region.

Hier fand am vorletzten Wochenende die überregionale Tagung der algerischen Protestbewegung statt. Innere Spannungen und die Politik des Regimes, das während des Sommers alle Demonstrationsversuche in Algier unterbunden hatte, machten eine Strategiedebatte notwendig. Vertreten waren Delegierte aus sechs überwiegend kabylischen Wilayas (Verwaltungsbezirken), aber auch Gruppen aus der Region Algier, unter anderem ein Frauenkollektiv.

Die Protestbewegung hatte Ende April im Bergland um die Stadt Tizi Ouzou begonnen. In Beni Douala, einer 20 Kilometer von Tizi Ouzou entfernt gelegenen Ortschaft, nahm die Gendarmerie am 18. April den 19jährigen Gymnasiasten Massinissah Guermah fest. Der Jugendliche wurde so schwer misshandelt, dass er zwei Tage später starb. Danach, so erzählt Massinissahs Vater Said Guermah, eskalierte der schon lange schwelende Konflikt mit der Gendarmerie, die sich wie eine Besatzungstruppe benahm.

Delegierte der Bezirksversammlung von Tizi Ouzou berichten, dass danach zunächst die Ältestenräte reaktiviert wurden. Diese außerstaatlichen, traditionellen Dorfhierarchien haben an Einfluss verloren, dienen aber noch immer dazu, private Streitigkeiten zu regeln, bevor staatliche Instanzen eingeschaltet werden. »Doch die Ältesten«, erzählt der 28jährige Raschid, ein Delegierter aus Ath Jennad, »entschieden in der Regel, es sei jetzt an der Zeit, den Jüngeren Platz zu machen.« Schließlich waren sie es, die auf der Straße mit der Staatsmacht konfrontiert wurden.

Deshalb, fährt Raschid fort, »begnügten die Alten sich mit der Rolle, eine Generalversammlung einzuberufen und sie zu eröffnen. Die Versammlung wählte dann auf demokratische Weise aus ihrer Mitte die Delegierten für die überregionalen Ebenen. An vielen Orten wurden auch Jugendliche problemlos in die Delegationen gewählt, die sonst vor den Ältesten hätten schweigen müssen.«

Obwohl sich die Protestbewegung über die Altershierarchie hinwegsetzte, repräsentierten die Versammlungen, besonders auf dem Land, häufig Siedlungsgebiete eines Stammes oder einer Großfamilie. So bestand auch die Gefahr, dass traditionelle Konflikte wiederbelebt werden könnten. Ein Teil der Einwohner von M'chedallah etwa, wo eines der ersten Komitees der Region Bouira entstand, ist mit den Bürgern der 20 Kilometer entfernten Ortschaft Raffour verfeindet. Die Islamisten versuchten, diese Feindschaft zu nutzen und zugleich die Wut der Protestierenden auf Orte vermeintlicher Unmoral zu lenken. Eines der ersten Gebäude in Raffour, das in Flammen aufging, war eine Kneipe, die einem Bewohner von M'chedallah gehörte.

Es gelang jedoch, die Islamisten aus der Bewegung zu drängen. Junge Intellektuelle und Lehrer, die Wortführer des Protests, überzeugten die Versammlungen von der Notwendigkeit, sich außerhalb traditioneller Strukturen zu organisieren. Andernfalls wären die zahlreichen in der Region lebenden arabischsprachigen Bewohner und Zuwanderer aus anderen Landesteilen ausgeschlossen gewesen.

Durch die Region Bouira verläuft die Grenze zwischen den berbersprachigen Gebieten, zu denen ein Drittel der Kommunen des Bezirks gehören, und den arabischsprachigen Landesteilen. »Über diese Grenze darf der Protest in den Augen des Regimes keinesfalls hinausgehen, er soll auf eine vermeintlich regionalistische Angelegenheit begrenzt bleiben«, analysiert Mourad, der Korrespondent einer überregionalen Tageszeitung.

Örtliche Aktivisten vermuten, dass die Staatsmacht deshalb hier besonders hart zugeschlagen hat. Mitte Juni war die Gendarmerie, verstärkt durch Eliteeinheiten der Armee, zu einer regelrechten Strafexpedition ausgerückt. Wer nicht schnell genug laufen konnte, wurde verhaftet und misshandelt; im Kulturzentrum der Kleinstadt Haïzer zeigen die Jugendlichen ihre Narben. Heute laufen 25 Strafverfahren gegen angeblich an der Revolte Beteiligte. »Die Vorwürfe sind oft absurd«, berichtet der Englischlehrer Schaban, »einer der verhafteten Jugendlichen kam erst kürzlich von einem Berufspraktikum aus dem mehrere hundert Kilometer entfernten M'sila zurück, wo er die letzten sechs Monate verbracht hatte.«

Doch auch ein Teil der Bewegung befürwortet eine regionalistische Orientierung. Obwohl sich die Proteste gegen die soziale Misere richten, blieb die Bewegung bislang klassenübergreifend. Die kabylischen Regionalparteien FFS (Front der Sozialistischen Kräfte) und RCD (Sammlung für die Kultur und die Demokratie) versuchen, eine soziale Radikalisierung zu verhindern und die Bewegung zu kanalisieren. Unterstützung finden sie bei den dörflichen Honoratioren, die vielerorts wieder an Einfluss gewonnen haben, und bei der kabylischen Bourgeoisie. Sie zieht es vor, mitzuschwimmen und mitunter die Proteste zu finanzieren, damit nicht ihre eigenen Güter angezündet werden.

In Bejaïa mit seinen 350 000 Einwohnern, seinem Ölhafen und den Industrieanlagen, gaben in den Stadtteilkomitees Marxisten, Intellektuelle der Universität und organisierte soziale Kräfte, vor allem Gewerkschafter, den Ton an. Ende Juli provozierten die konservativen Kräfte hier eine Spaltung der Protestplattform in das Comité populaire, das die Linken und Gewerkschafter umfasst, und die Coordination intercommunale. Zusammengehalten wird die Coordination von einer charismatischen Führungspersönlichkeit, den politischem Abenteurer Ali Gharbi.

1997 hatte Gharbi bei den Parlamentswahlen noch für die Islamistenpartei Hamas/MSP kandidiert. Die Tageszeitung La Nouvelle Republique bezeichnete ihn jüngst als »seigneur de la guerre« (Kriegsherr). Der Schnauzbartträger, der radikale Reden hält und auch bei nächtlichen Versammlungen seine dunkle Sonnenbrille nicht abnimmt, verfügt über die wichtigsten Accesoires der Macht: eine Mercedes-Limousine und mehrere Leibwächter. Eine umstrittene Persönlichkeit, derzeit aber hat seine Coordination auch überregional die Legitimität errungen.

Radikaleren Kräften wie der Vertretung der Stadt Tizi Ouzou fällt es schwer, sich gegen das kabylische Establishment durchzusetzen. Auf einer am 29. August einberufenen regionalen Versammlung gelang es aber, die konservativen Dorfdelegationen unter Druck zu setzen und weitere Aktionen zu planen. Viele Beschlüsse wurden an den darauffolgenden Tagen von der überregionalen Konferenz in M'chedallah übernommen.

Die Bewegung will in Zukunft auch auf zivilen Ungehorsam wie das Nichtbezahlen der Rechnungen des staatlichen Strom- und Gaskonzerns Sonalgaz setzen. Eine der geplanten Aktionen soll am 1. November in der Nähe von Batna stattfinden. Ort und Datum sind politisch brisant, denn die Bewegung will hier an die Tradition der algerischen Revolution anknüpfen, die bislang dem Regime als Legitimationsgrundlage dient: Am 1. November 1954 begann in Batna der Befreiungskrieg gegen Frankreich.