Der unsichtbare Feind

Ungeachtet aller Solidaritätsbekundungen haben die USA Probleme, Verbündete für die kommenden Militäreinsätze zu finden. Schon eine Militäraktion gegen Afghanistan birgt große Risiken.

Dies ist ein Krieg ohne Schlachtfelder und Brückenköpfe, ein Konflikt mit Gegnern, die glauben, sie seien unsichtbar«, erklärte US-Präsident George W. Bush am Samstag in einer Radioansprache. Der Sieg erfordere »eine Reihe entscheidender Aktionen gegen terroristische Organisationen und gegen jene, die sie beherbergen und unterstützen«.

Das Kriegsprogramm lässt Ziele und Mittel künftiger Militäreinsätze absichtlich offen. In diesem Fall dürfte dahinter weniger das perfide Kalkül des militärisch-industriellen Komplexes stecken als die vorübergehende Ratlosigkeit der führenden Weltmacht. Wie auf Anschläge reagieren, die Tausende von Todesopfern fordern, das wichtigste Symbol des US-Kapitalismus in einen Trümmerhaufen verwandeln und eine ohnehin kriselnde Weltwirtschaft möglicherweise endgültig in die Rezession stürzen?

Wenn die Normalität einkehrt und strategische Überlegungen wieder dominieren, wird Bush im Besitz eines Blankoschecks sein, den ihm der Senat und das Repräsentantenhaus mit nur einer Gegenstimme ausstellten. Im Krieg gegen den Terrorismus darf er alle »erforderlichen und angemessenen Mittel« einsetzen. Auf die Regel, dass es bei Interventionen keine hohen Verluste geben darf, muss die Regierung angesichts der patriotischen Aufwallung derzeit keine Rücksicht nehmen. Auch an möglichen Feinden fehlt es nicht, der Bericht des US-Außenministeriums für das Jahr 2000 benennt sie: »Iran, Irak, Syrien, Libyen, Kuba, Nordkorea und Sudan sind weiterhin die sieben Regierungen, die der Außenminister als staatliche Förderer des internationalen Terrorismus bezeichnet.«

Was fehlt, sind konkrete Kriegsziele. Und ungeachtet aller demonstrativen Solidaritätsbekundungen haben weder die EU noch Russland, China, Japan oder andere Staaten ihre Interessen und ihre Differenzen mit den USA vergessen. Schon beim ersten US-Militäreinsatz könnten die alten Rivalitäten wieder offen ausgetragen werden.

Ein Feind ist nicht mehr unsichtbar, sondern auf allen Fernsehschirmen präsent: Ussama bin Laden. Auf ihn und das Netzwerk al-Qaida (siehe Seite 20), seine Trainingslager und seine Gastgeber, das afghanische Talibanregime, wird wahrscheinlich der erste Angriff zielen. Bis zum 11. September wollte man sich die Möglichkeit einer Vereinbarung mit den Taliban offen halten. Nun aber will die US-Regierung auch gegen bin Ladens Herbergsväter vorgehen.

Ein Machtwechsel bedarf afghanischer Repräsentanten. Zeit also, sich nach Verbündeten bei der in der Nordallianz zusammengeschlossenen bewaffneten Opposition umzusehen, die bislang vergeblich auf westliche Unterstützung wartete. Bis zum 11. September haben Russland und sogar der islamistische Iran mehr gegen die Taliban unternommen als die westlichen Hüter der Zivilisation. Sie versorgten die Nordallianz mit Geld und Waffen, und sie würden es nicht gerne sehen, wenn jetzt die USA die Früchte ihrer Anstrengungen ernteten. Weitgehend unumstritten ist einzig das Vorgehen gegen die Stützpunkte der al-Qaida. Russland fürchtet jedoch eine Stärkung der US-Position in seinen mittelasiatischen Einflussgebieten, während China verhindern will, dass sein enger Verbündeter Pakistan unter US-Hegemonie fällt.

Dass Pakistan sich entschlossen hat, sein Territorium für einen Krieg gegen Afghanistan zur Verfügung zu stellen, ist derzeit die brisanteste Entwicklung. Eine Wahl hatte Staatschef Pervez Musharraf nicht. Den USA die geforderte Unterstützung zu verweigern, hätte Pakistan ganz oben auf die Liste der »Förderer des internationalen Terrorismus« gesetzt - eine zur Zeit nicht ungefährliche Führungsposition. Nun kann Musharraf nicht nur hoffen, dass ihm alte Sünden wie die Unterstützung der Taliban und der Bau von Atombomben vergeben werden. Bessere Beziehungen zu Washington würden dem Regime dringend benötigte Kredite des IWF verschaffen. Und fortan wird man das Militärregime wohl auch nicht mehr drängen, die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse zu beschleunigen.

Wenn es zu längeren Kämpfen in Afghanistan kommt, könnte die harte Hand des Militärs noch gebraucht werden. Denn gegen das Bündnis mit den USA wandten sich nicht nur islamistische Organisationen. Auch die in der Allianz für die Wiederherstellung der Demokratie (ARD) zusammengeschlossenen Oppositionsparteien kritisierten die Zusagen der Regierung an die USA. »Wenn die Regierenden allein eine Entscheidung treffen, wären sie verantwortlich für die Konsequenzen«, heißt es in einer am Samstag verabschiedeten Erklärung der ARD.

Die islamistischen Gruppen verfügen über beträchtliche Mengen an Waffen, und ein Krieg gegen Afghanistan könnte auch das Militär spalten. Stellvertretend für die dissidenten Fraktionen hat der ehemalige Armeechef General Mirza Aslam Beg am Samstag erklärt, pakistanische Einrichtungen dürften keinesfalls für Angriffe auf Afghanistan zur Vergügung gestellt werden. Viele der jüngeren Offiziere neigen zum Islamismus. Die größte Sorge der US-Militärstrategen dürfte es derzeit wohl sein, dass sich aufständische Militäreinheiten des pakistanischen Atomwaffenarsenals bemächtigen könnten.

Angesichts solcher Möglichkeiten ist es kein Wunder, dass die europäischen Nato-Staaten sich für eine Teilnahme an diesem Krieg nicht recht begeistern können. Zwar hat die Nato die Anschläge vom 11. September als Kriegshandlung bewertet und den Verteidigungsfalls erklärt. Diese Erklärung bezieht sich aber allein auf diese Anschläge, schließt also allenfalls Aktionen gegen das al-Qaida-Netzwerk ein. Und welcher Art der Beistand für die USA sein wird, bleibt Verhandlungssache. Sinnvoller ist es aus Sicht der EU, die Lage als Legitimation für die Stärkung der eigenen Militärmacht zu nutzen.

Was die »Förderer des internationalen Terrorismus« betrifft, sind die westlichen Staaten geteilter Meinung. So wünschen die meisten Mitglieder der EU bessere Beziehungen zu Libyen, Iran, Syrien und Irak, während die USA und Großbritannien am Bündnis mit den islamisch legitimierten Monarchien der Golfregion festhalten. Militäraktionen, die von der EU mitgetragen werden, wären allenfalls gegen Stützpunkte der al-Qaida in ökonomisch unbedeutenden Staaten wie Sudan oder Somalia möglich.

Einzig in ihrem Hinterhof Lateinamerika hätten die USA relativ freie Hand. Die kolumbianischen Guerillagruppen Farc und ELN werden vom US-Außenministerium ausdrücklich als »terroristische Organisationen« bezeichnet, Kuba wird vorgeworfen, sie zu unterstützen und ihre Mitglieder zu beherbergen. Während die Weltöffentlichkeit auf den Nahen und Mittleren Osten schaut, könnten auch ganz andere Regionen ins Visier des US-Militärs geraten.