Stewart O'Nans »Das Glück der anderen«

Vom Du-Erzähler zum Ich-Leser

In Stewart O'Nans neuem Roman »Das Glück der Anderen« löscht Diphtherie ein ganzes Dorf aus.

Die meisten Schriftsteller haben ein Thema oder ein Netz von Metaphern, irgendeine Vorstellungswelt, der sie sich zugehörig fühlen. Das kann das eigene Leben sein, das Leben ihrer Familie, irgendein Trauma oder zweieinhalb Obsessionen, die sich durch all ihre Bücher ziehen. Oder sie bevorzugen bestimmte Personenkonstellationen, die dann durch verschiedene Szenarien gescheucht werden, bestimmte Traumfiguren, die immer wieder erzählt werden wollen. Den meisten Schriftstellern geht es so. Wäre es anders, würde ihren Büchern die libidinöse Aufladung fehlen. Würden sie diesen Phantasmen nicht folgen, hätten sie nichts zu erzählen.

Bei Stewart O'Nan ist das anders. Er ist ein Geschichtenerzähler. Jede Erzählung, jeder Roman folgt einer neuen Idee. O'Nan fängt jedes Mal aufs Neue bei Null an. Sein Roman »Speed Queen« lotete die Innenwelten einer amphetamingesteuerten jugendlichen Mörderin aus, »Zeit der Züge« erzählte sehr zurückgelehnt die Geschichte eines amerikanischen Kriegsdienstverweigerers im Zweiten Weltkrieg. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden Romane war, dass sie Dinge verhandelten, die man im weitesten Sinne mit den Begriffen Grenzerfahrung und individuelle Verantwortung zusammenklammern könnte. Aber welcher Roman tut das nicht?

»Das Glück der anderen« macht da keine Ausnahme. Es ist die Geschichte von Jacob Hansen, dem Sheriff, Pastor und Leichenbestatter von Friendship, einem kleinen amerikanischen Dorf in Wisconsin in den Sechzigern des 19. Jahrhunderts. Es ist Sommer, die Kinder planschen im Fluss, in den Textilläden suchen Frauen Stoffe aus, man erzählt sich Geschichten über eine Sekte, die sich im nahe gelegenen Wald niedergelassen hat, die Vögel singen. Bis am Dorfrand die Leiche eines herumstreunenden Soldaten gefunden wird. Die Leiche zeigt Symptome der Diphtherie. Hansen muss Friendship unter Quarantäne stellen.

Der Soldat ist nicht das einzige, was auf den gerade zu Ende gegangenen Bürgerkrieg verweist. Hansen selbst hat wochenlang unter Belagerung gestanden, hat Pferde- und Menschenfleisch gegessen und währenddessen zu einem tiefen Glauben gefunden. Und nun sucht dieses Grauen, dem er eigentlich entkommen zu sein glaubte, das fragile soziale System heim, in das er sich gerettet hatte. Friendship, sein Dorf. Die Seuche bricht aus. Einen Dorfbewohner nach dem anderen muss er begraben, sein Kind und seine Frau sterben. Die Dörfler fangen an zu rebellieren, dann zieht auch noch ein verheerender Waldbrand heran.

»Das Glück der anderen« liest sich streckenweise wie ein Splatterroman. Hansen hat Sex mit seiner toten Frau, die Leichen stapeln sich in seinem Keller, Menschen vergiften sich mit Streichholzköpfen. Und beim Schlussszenario, wenn der Waldbrand durch das verlassene Dorf fegt, Hansen in einen Teich springt, das Feuer über ihn hinwegwalzt und er schließlich die Leichen all derjenigen entdeckt, die er eigentlich in Sicherheit zu bringen glaubte, die aber Opfer eines explodierenden Dampflokkessels wurden, hat man das Gefühl, einer endlos langen, detaillierten und grausamen Kamerafahrt zu folgen.

Worum geht es also? Um Verantwortung, um die Frage, wie man seine soziale Funktion angesichts der nahenden Katastrophe definiert - schickt man seine Familie zur Verwandtschaft, was ihr vielleicht das Leben retten, aber gleichzeitig das vieler anderer riskieren würde, die Familie könnte schließlich auch infiziert sein? Geht es um Glauben? Schließlich unterhält sich Hansen lieber mit Gott und den Toten als mit seinen Mitmenschen, »A Prayer for Dying« heißt das Buch im Original.

Oder geht es um die Dialektik von Glauben und Verderben? Der Glauben hat Hansen zwar vor dem Verrücktwerden gerettet, gleichzeitig ist es aber sein Bestehen auf gewissen religiösen Ritualen der Leichenbehandlung, das ausgerechnet Hansen zum Überträger der Seuche in Friendship macht. Ohne es zu wissen, ist er für das ganze Desaster verantwortlich, und als er durch die Endzeitlandschaft des zerstörten, entvölkerten Dorfes läuft, dämmert ihm, was er da eigentlich so alles an Verantwortung auf seinen Schultern trägt. Oder ist »Das Glück der Anderen« gar ein hellsichtiger Roman über ein Amerika, von dem Gott sich abgewendet hat, und es war kein Zufall, dass die deutsche Übersetzung am 11. September erschien?

Alles möglich, aber der Grundkonstellation des Buches nachgängig. Denn eigentlich ist »Das Glück der anderen« ein Buch über einen Schriftsteller, der an seinem Schreibtisch sitzt und sagt: »Stell Dir vor ... was wäre wenn?« »Du arbeitest gern für dein Geld, aber wenn man dich braucht, ist immer ein Unglück im Spiel, so oder so«, heißt es auf der ersten Seite, und das ist genau die Erzählperspektive, die O'Nan das ganze Buch über durchhalten wird. »Wann wird dich dein Glaube nicht retten? Wenn du zu stark an diese Welt glaubst. An dich. An etwas anderes als Gott. Wenn du es nicht zulässt. Wenn du nicht gerettet werden willst«, heißt es, als das Desaster in vollem Gange ist.

Es ist ein Du-Erzähler, den O'Nan seine Geschichte in einen Möglichkeitsraum sprechen lässt. Eine fragile Konstruktion, die den Erzähler noch näher an einen heranrücken lässt, die Geschichte aber gleichzeitig in der Schwebe hält. Vom Du-Erzähler zum Ich-Leser. Eine Perspektive, die den Leser zum Komplizen des Erzählten macht - gerade weil die ganze Geschichte eigentlich nichts weiter ist als ein längeres Gedankenspiel.

 

Stewart O'Nan: Das Glück der anderen. Rowohlt, Reinbek 2001, 220 S., DM 39,90