Destabilisierung

Die Spannung steigt

In Italien zeichnet sich eine Neuauflage der Strategie der Spannung ab.

Immer, wenn in Italien eine Bewegung wächst, die die Frage nach einer Veränderung im Land stellt, gibt es Bomben, oder es schießt jemand. Die Strategie, Spannung zu erzeugen, ist eine Konstante im italienischen politischen System, das durch die undurchsichtige Rolle der Geheimdienste noch komplizierter wird.« Diese Äußerung von Gianfranco Bettin, dem stellvertretenden Bürgermeister von Venedig, nach einem Bombenanschlag auf das städtische Gericht Anfang August bringt auf den Punkt, was die radikale Linke in Italien spätestens seit dem Sommer dieses Jahres vermutet: Die ultrarechte Regierung von Silvio Berlusconi arbeitet an einer Neuauflage der berüchtigten Strategie der Spannung.

Verschiedene Ereignisse der vergangenen Monate erinnern an das Drehbuch der historischen strategia della tensione und erzeugen zumindest ein politisches Klima, in dem es möglich ist, dass jemand wie Francesco Cossiga, Senator auf Lebenszeit, öffentlich die Rehabilitierung des geheimen antikommunistischen Terrornetzwerks Gladio fordern kann. So geschehen Mitte Oktober (Jungle World, 45/01).

In den sechziger Jahren als Antwort auf die erstarkende Linke in Italien entstanden, zielte die Strategie der Spannung darauf ab, den Eindruck der Instabilität des politischen Systems zu erzeugen und damit die Notwendigkeit eines »starken Staates« in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Am 12. Dezember 1969 forderte ein Anschlag auf die Nationale Landwirtschaftsbank in Mailand 17 Menschenleben. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf die radikale Linke. Eine Art nationaler Notstand wurde erklärt, die Repression gegen die außerparlamentarische Linke verschärft und die Befugnisse der Sicherheitsorgane ausgeweitet. Am 2. August 1980 explodierte im Bahnhof von Bologna eine Bombe, 85 Menschen starben. Die folgenden Repressionswellen führten zu 40 000 Anzeigen und 15 000 Verhaftungen. 4 000 Personen wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. 1982 war die radikale Linke weitgehend zerschlagen.

Militärisch umgesetzt wurde die Strategie der Spannung von klandestinen Organisationen, die vor allem aus Militärs, Geheimdienstagenten und Neofaschisten bestanden und die unter dem Namen Gladio operierten. Die Geheimloge Propaganda 2 (P 2) stützte das Vorgehen politisch. Sie bestand aus etwa 1 000 Politikern, hohen Militärs, in- und ausländischen Geheimdienstchefs, Vertretern der Polizei und der Carabinieri, Unternehmern und Journalisten. Auch Silvio Berlusconi war Mitglied der Loge. Etwa 100 P 2-Mitglieder wurden wegen Verwicklungen in illegale Geschäfte, Putschpläne, Morde, Erpressungen, Anschläge und Verdunklung rechtskräftig verurteilt.

In den Tagen vor dem G 8-Gipfel in Genua herrschte in Italien erneut Panikstimmung. Diverse Briefbomben und Drohbriefe waren verschickt worden. Einige waren mit Unterschriften von anarchistischen Gruppen versehen. Beim Öffnen eines Päckchens wurde ein 20jähriger Carabinieri am Auge und an einer Hand verletzt, ähnlich erging es der Sekretärin des rechten Fernsehjournalisten Emilio Fede. Doch auch die Linke blieb nicht verschont. So erhielt der Sprecher des Genua Social Forum (GSF), Vittorio Agnoletto, einen Brief mit seinem Foto und zwei Pistolenkugeln. An die Urheberschaft von Anarchisten wollte deshalb kaum jemand innerhalb der italienischen Linken glauben. Stattdessen verurteilte man die Aktionen als versuchte Neuauflage der Strategie der Spannung gegen die linke Opposition.

Während das Vorgehen der italienischen Sicherheitskräfte gegen die DemonstrantInnen in Genua nach dem G 8-Treffen auch international in die Kritik geriet, schlug die Regierung harte Töne an. Sie stellte sich geschlossen hinter die Polizeieinheiten, denen schwere Misshandlungen und Folterungen von G 8-Gegnern sowie die vorsätzliche Tötung von Carlo Guiliani vorgeworfen wurden. Berlusconi beschwor in der Rhetorik der siebziger Jahre den »nationalen Zusammenhalt der Demokraten« gegen die Bedrohung von links.

Mit Bezug auf die siebziger Jahre forderte auch Francesco Cossiga, ehemaliger Staatspräsident und Innenminister, die »nationale Einheit«. Cossiga gilt als einer der Protagonisten der Strategie der Spannung. Während die italienische Regierung im Oktober 1990 erstmals offiziell die Existenz von Gladio zugab, erklärte der damalige Staatschef, er sei stolz darauf, 1967 als Untersekretär im Verteidigungsministerium das Undercover-Netz reorganisiert zu haben.

Auf die nach dem G 8-Gipfel von vielen Seiten erhobenen Rücktrittsforderungen an die Adresse von Innenminister Claudio Scajola entgegnete Cossiga, dass während seiner Amtszeit als Innenminister nie jemand seinen Rücktritt wegen des zu harten Vorgehens der Polizei gefordert habe. Cossiga erinnerte an Ereignisse wie im März 1977 in Bologna, als Francesco Lo Russo, ein Aktivist der Gruppe Lotta Continua, von einer Einheit der paramilitärischen Carabinieri getötet wurde.

Nach dem Skript der strategia della tensione fehle jetzt nur noch »die große Bombe«, merkten einige prominente Linke nach diesen Äußerungen scherzhaft an. Prompt zerstörte in der Nacht vom 8. auf den 9. August in Venedig ein Brandsatz Teile des städtischen Gerichtes. Die Presse und regierungsnahe Kräfte sprachen von einem »qualitativen Sprung« der Anti-Globalisierungsbewegung. Berlusconi bezichtigte die G 8-Gegner gar, Urheber des Anschlags zu sein, und forderte erneut die »nationale Einheit«. Dieses Mal stellte sich auch das oppositionelle Links-Mitte-Bündnis Ulivo hinter den Premier.

In den Tagen nach dem Anschlag in Venedig gingen verschiedene Bekennerschreiben bei der Presse ein. Als authentisch wurde in den Medien jedoch lediglich ein Papier der Nuclei Territoriali Antiimperialisti präsentiert. Einzig der ermittelnde Staatsanwalt Felice Casson hielt die Erklärung für unglaubwürdig, während innerhalb der Regierung die Forderungen immer lauter wurden, Luca Casarini, den Sprecher der Tute bianche, anzuklagen. Zunächst ohne Erfolg.

Doch dann detonierte am 21. August ein Sprengsatz im Büro der rechtsextremen Lega Nord im norditalienischen Padova. Obwohl sich niemand zu dem Anschlag bekannte, begann man nun in Regierungskreisen, öffentlich »über die Gefährlichkeit des neuen linken Terrorismus« zu sprechen. Anfang September leitete die Justiz dann Ermittlungen gegen Casarini wegen des Aufrufs zur »Bildung einer kriminellen Vereinigung« ein.

Noch härter betroffen von der aktuellen Kriminalisierung sind allerdings anarchistische Gruppen, die nach wie vor für die Briefbombenserie im Vorfeld des G 8-Gipfels verantwortlich gemacht werden. Nach dem Gipfel erfolgten in 15 italienischen Städten Hausdurchsuchungen bei vermeintlichen Vertretern des »anarcho-insurrektionalistischen« Spektrums.

Begleitet wird die Repressionswelle von einer Propagandakampagne der Regierung, die dabei die Anschläge in den USA instrumentalisiert, um weiter gegen die Linke mobil zu machen und noch eindringlicher die Notwendigkeit eines autoritären Staates zu propagieren. Bei seinem Besuch Ende September in Berlin verstieg sich Berlusconi zu der Aussage, es sei kein weiter Weg von den »um 1 400 Jahre zurückgebliebenen Muslimen« über die Attentate in den Vereinigten Staaten zu den G 8-Gegnern. Deshalb gebe es auch »eine einzigartige Übereinstimmung zwischen den Aktionen der Terroristen und der Bewegung gegen die Globalisierung«.