Erinnerung? Vergiss es!

Der 11. September hat die Sicht auf den 9. November verändert. Deutsche Intellektuelle hetzen unverblümt gegen Israel, und jüdisches Leben findet unter noch strengeren Sicherheitsmaßnahmen statt.

Die Ansichten gleichen sich bis in den Wortlaut. »An die Kanonenbootpolitik von Wilhelm II.« fühle er sich angesichts der US-amerikanischen Angriffe auf Afghanistan erinnert, klagte Martin Walser vorige Woche gegenüber dem Mannheimer Morgen. »Man macht das, was man sich aufgrund der eigenen Machtstellung glaubt erlauben zu können.«

Kurz zuvor hatte schon Günter Grass dem antiamerikanischen Aufruhr Ausdruck verliehen, der seit dem 11. September in Deutschland nicht nur Schriftsteller und Intellektuelle erfasst hat. »Die CIA war im Grunde in ihrer Praxis auch eine terroristische Vereinigung, auch mit Mordanschlägen auf Politiker«, wandte er in der Debatte um die Terroristen des al-Qaida-Netzwerkes ein, um dann den USA zu attestieren, dass sie »aus sich selbst, aus ihrer Ich-Bezogenheit heraus, wenig Ahnung vom Rest der Welt« hätten.

Im Unterschied zu dem Literaturnobelpreisträger, sollte man wohl hinzufügen. Denn Grass brachte in seinem Gespräch mit Spiegel online jene Bestandteile des deutschen Weltbildes auf einen Nenner, die sich wie eine Fortsetzung von Walsers Paulskirchenrede 1998 lesen lassen: »Amerikakritik« und »der Mut, Israel endlich dazu zu bringen, seine Besatzungspolitik aufzugeben.« Während Walser kürzlich noch von einem »Distanzgefühl« sprach, das »der Unisonochor der Betroffenheit, das Vibrato der Empörung« in Deutschland in ihm erzeuge, erfasste Grass der blanke Zorn: »Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedelung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden.«

Grass und Walser

Grass' antiisraelisches Diktum könnte eindeutiger nicht ausfallen. Doch so wie schon vor drei Monaten Jürgen Möllemanns Vorwurf des »Staatsterrorismus« unwidersprochen verhallte, blieb die bürgerliche Öffentlichkeit auch nach Grass' Infragestellung des Existenzrechts Israels stumm. Die Ausnahme bildete Paul Spiegel. »Wer solche Äußerungen macht, der stellt sich auf eine Stufe mit den radikalen Feinden Israels«, erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland in der vergangenen Woche. »Plötzlich wird jedem von uns klar, wie verbreitet die stereotypen Vorstellungen von 'den Juden' sind und wie vor allem der Antisemitismus, der sich allzu oft hinter vermeintlich legitimem Antiisraelismus und Antizionismus verbirgt, noch lebendig ist.«

Es blieb einer Schweizer Zeitung vorbehalten, Grass' bewusste Entgleisung zu skandalisieren. Gewohnt lakonisch kommentierte die Neue Zürcher Zeitung »die Verhaltenheit, mit welcher deutsche Intellektuelle und die deutsche Öffentlichkeit den Affront zwischen ihrem prominentesten Schriftsteller und dem wichtigsten Vertreter der Juden in Deutschland notieren (oder besser ignorieren)«. Sieht man von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ab, wo Grass am vorletzten Wochenende seine Vorwürfe erneuerte, hat neben der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung allein Christian Bommarius in der Berliner Zeitung die Kontroverse zum Thema gemacht. »Absolutes Desinteresse, Gleichgültigkeit und Ignoranz« beklagte die Vizepräsidentin des Zentralrats, Judith Hart.

Davon betroffen sind nicht zuletzt die 140 000 Juden in Deutschland. Bundesweit wurden seit dem 11. September die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen verstärkt. Marc Grünbaum, jüdischer Gemeinderat in Frankfurt am Main, berichtet von der Angst vor neuen Anschlägen, die viele Mitglieder seit den Terror-Attentaten ergriffen habe. Manche Eltern, so der Rechtsanwalt, würden ihre Kinder an Feiertagen nun nicht mehr mit in die Synagoge nehmen. Auch im Jüdischen Museum in Berlin, das erst kürzlich seine Dauerausstellung eröffnet hat, spürte man die Folgen der Angriffe auf New York und Washington. Erst Ende September pendelten sich die Besucherzahlen wieder ein.

Israels »Mitschuld«

Grünbaum ist entsetzt, wie ungeniert antiamerikanische und antiisraelische Positionen Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden haben. Zwar unterstellt er Grass keinen »Antisemitismus per se«, und auch eine »emotionsgeladene antiamerikanische Stimmung« wie während des Golf-Krieges kann er nicht erkennen. Den »Bruch eines bestimmten Grundkonsenses« jedoch markiere Grass' Äußerung schon. Dass es zu keiner »nennenswerten Reaktion der politischen Klasse« gekommen sei, führt Baumann »auf diese Psychologie« zurück, wonach »Israel schon irgendetwas zu den Anschlägen beigetragen hat«.

In seiner »Warum wir die Amerikaner hassen« betitelten Polemik hat der Publizist Henryk M. Broder schon am 17. September in Spiegel online auf diese psychologischen Besonderheiten hingewiesen. So empfänden die Deutschen Antiamerikanismus und Antiisraelismus als berechtigte Konsequenz aus der »gewaltige(n) Demütigung«, die die Befreiung durch die USA für sie letztlich bedeutet habe. »Denn die Amis haben keine Kultur, sie sind Barbaren, und dennoch haben sie einem Kulturvolk in der Mitte Europas wieder auf die Beine geholfen. Dass die Amerikaner die Israelis unterstützen, mit denen die Deutschen ebenfalls noch eine historische Rechnung offen haben, macht die Sache nur noch schlimmer.«

Das war keine Woche nach den Anschlägen wohl zu starker Tobak für die Macher von Spiegel online. Schon am nächsten Tag kanzelte der Spiegel-Korrespondent Matthias Matussek Broder ab: »Dein Kommentar gestern auf Spiegel Online war Bullshit.« Broder hat seitdem weder in der Online-Ausgabe - wo drei Wochen später das Interview mit Grass erschien -, noch in der Printausgabe des Spiegel veröffentlicht. In der aktuellen Nummer reiht sich stattdessen Herausgeber Rudolf Augstein in die Reihe der neuen deutschen Israelkritiker ein. Anlass ist auch hier nicht der Nahostkonflikt, vielmehr geht es um die Folgen des 11. September: »Aus Terroristen werden Herrscher, manchmal ganz respektable wie Jomo Kenyatta in Kenia; manchmal immerhin demokratisch gewählte wie Menachem Begin in Israel, der im Juli 1946 das Jerusalemer Hotel King David in die Luft gesprengt hatte (91 Tote).«

Auch Toby Axelrod, Deutschland-Korrespondentin der in New York ansässigen Jewish Telegraphic Agency, ist aufgefallen, dass die Erwähnung des islamistischen Terrors kaum noch ohne die Nennung Israels auskommt. Daran, »dass Juden verantwortlich gemacht werden, wenn etwas Schlimmes passiert«, habe sie sich gewöhnen müssen, so die Journalistin, die nach den ersten Solidaritätsbekundungen im September nun mit einem erneuten »Erwachen des Antisemitismus« rechnet. Dieses Gefühl hätten auch ihre Verwandten in New York geteilt, die sie Mitte September besuchte. »Wir haben weniger über Politik geredet als über unsere Angst.«

Die Sorge, dass antijüdische, antiisraelische Ressentiments zu einem neuen Anschlag führen könnten, ähnlich dem auf die Essener Synagoge im Herbst vergangenen Jahres, treibt auch den Historiker Dieter Fitterling um. »Sobald es zu einem Anschlag kommen sollte, sieht die Situation vollkommen anders aus«, sagt der Antisemitismusforscher, der mit Rundgängen entlang historischer jüdischer Orte in Berlin »aktuelle Geschichtspolitik« betreiben will, wie er es nennt.

Doch das hehre Anliegen dürfte 63 Jahre nach der Reichspogromnacht und zwölf Jahre nach dem Mauerfall immer weniger Chancen haben zu fruchten. Zu eng zusammengerückt sind nicht nur die politischen Eliten des Landes. Bis weit in die Bevölkerung hinein reicht der Konsens, dass die Bundesrepublik elf Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigung nicht mehr abseits stehen könne, wenn deutsches Mitmachen bei Militäreinsätzen im Ausland gefragt ist.

Darf Deutschland wieder Krieg führen?

Man kann es wohl getrost als Nebeneffekt des Streits zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis vor drei Jahren bezeichnen, dass ein militärisches Eingreifen Deutschlands nicht trotz, sondern wegen der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 erlaubt sei. Denkmuster dieser Art traten in der vergangenen Woche auch bei einer Diskussion zutage, zu der der Spiegel in die Berliner Humboldt-Universität eingeladen hatte. »Darf Deutschland wieder Krieg führen?« lautete die Frage, die Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der Historiker Heinrich August Winkler sowie der Rechtsprofessor und Schriftsteller Bernhard Schlink klären wollten. Die Antwort konnte kaum überraschen: Ja, Deutschland darf. Interessant waren allerdings die Begründungen.

»Endgültig absurd« fand etwa Schlink die Vorstellung, dass »Bezüge zum Dritten Reich heute irgendetwas Ergiebiges aussagen können«. »Nicht, dass das Dritte Reich keinerlei Bedeutung mehr hätte«, relativierte er später seine Aussage, um Gegnern eines Bundeswehreinsatzes im Ausland schließlich doch vorzuwerfen, dass sie ihre Argumente »mit Vergangenheitsargumenten moralisch zu vertiefen oder zu erhöhen« suchten. Winkler ging noch einen Schritt weiter, als er den Kriegskritikern vorwarf, »pseudosakral an die schrecklichsten Ereignisse der deutschen Geschichte« zu erinnern.

»Gelegentliche Anfälle von Neid« räumte auch Bundestagspräsident Thierse ein, wenn er sehe, wie unverkrampft »andere Völker ihre kollektiven Gemeinsamkeiten« ausdrückten. Auch in Deutschland müsse man deshalb lernen, dass »der Impetus, nie wieder Täter sein zu wollen«, keine »einfache und geradlinige Konsequenz« aus dem Nationalsozialismus erlaube. Und selbst wenn Thierse bei der geschichtspolitischen Entsorgung des »Dritten Reiches« nicht so weit gehen wollte wie Winkler und Schlink, verglich er doch die Gründe für den Kampf der Alliierten gegen den deutschen Faschismus mit denen der Anti-Terror-Allianz in der Auseinandersetzung mit al-Qaida. Schnell korrigierte sich der Bundestagspräsident: »Ich weiß, jeder Vergleich ist falsch.«

Das sah der konservative Historiker Winkler anders. Wenige Tage vor dem 9. November zeigte seine Argumentation, welch einschneidende Folgen der 11. September für die Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik haben kann. Winkler kehrte die Beweislast einfach um: »Deutsche Arroganz« sei es demnach, nicht mit in den Krieg gegen Afghanistan zu ziehen; »deutsche Übermoral« entdeckte er in den vielen Ratschlägen, wie andere Länder ihren Chauvinismus überwinden könnten; »negativen Nationalismus« machte er bei jenen aus, die weiterhin Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnten. Ein solcher Umgang mit dem Nationalsozialismus führe zu seiner »Instrumentalisierung, die sogar zur Banalisierung werden« könne.

Vergessene Erinnerung

Der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, W. Michael Blumenthal, dürfte mit dieser Art resolut vorgetragener Vergangenheitsbewältigung kaum einverstanden sein. In einer in dieser Woche erscheinenden Veröffentlichung des Museums zieht er jedenfalls andere Konsequenzen aus dem 11. September als der Bundestagspräsident und die beiden Professoren. »So werden wir kompromissloser, als wir es für möglich gehalten hätten, daran erinnert, welch tief greifende Relevanz die Lehren der Geschichte für unsere Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts besitzen.«

Auch die Befürchtungen Toby Axelrods lassen ahnen, dass jüdischen Repräsentanten in dem nur auf den ersten Blick homogenen bürgerlichen Anti-Terror-Bündnis eine andere Rolle zukommt als Nichtjuden. In den vergangenen Wochen sei ihr Optimismus geschwunden, was das »Zusammenleben von Juden, Christen und Moslems« angehe, sagt Axelrod. E-Mails, die sie bei ihrem dreiwöchigen Aufenthalt in New York von Freunden aus Deutschland erhalten habe, seien inhaltlich »weit weg gewesen von dem, was ich dort erlebt habe«.

Weit weg erscheint auch der 9. November des vergangenen Jahres. Nach dem Sommer des staatlichen Antifaschismus hatte Paul Spiegel bei einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor Äußerungen von Politikern wie dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz mit für die Hetze gegen Juden und Ausländer verantwortlich gemacht. »Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten? Geht es um Kultur oder um die Wertvorstellungen der westlich-demokratischen Zivilisation, die wir in unserem Grundgesetz fest verankert haben?« fragte er, um dann eine Antwort zu geben, die in Deutschland schon vor dem 11. September alles andere als selbstverständlich war. »Die Würde des Menschen - aller Menschen - ist unantastbar, nicht nur die des mitteleuropäischen Christen!«

68 Neonazi-Aufmärsche allein von Januar bis Anfang Oktober dieses Jahres sprechen eine andere Sprache. Auch die Missachtung, mit der in der vorigen Woche dem Baubeginn des Holocaustdenkmals begegnet wurde, lässt fürchten, dass sich erneut jenes reaktionäre Bündnis formieren könnte, das schon im Winter vor drei Jahren Schluss machen wollte mit der Erinnerung an Auschwitz. Allerdings unter veränderten Umständen: Während Spiegels Vorgänger Bubis in der Kontroverse mit Walser noch Teile der linksliberalen Öffentlichkeit an seiner Seite wähnen konnte, neigt diese im Streit zwischen Spiegel und Grass eher den Argumenten des Schriftstellers zu.

Von Bundespräsident Johannes Rau bis zur PDS-Vorsitzenden Gabi Zimmer ist man sich einig, dass Deutschland mehr sein müsse als »ein verlängerter Arm Amerikas«, wie Hans-Christian Ströbele von den Grünen es formuliert. Gerhard Schröders Diktum von der »uneingeschränkten Solidarität« mit den USA weisen sie vehement zurück, an einem »stärkeren europäischen Selbstbewusstsein«, so der Ratschlag der linksliberalen Amerika- und Israel-Kritiker, solle das deutsche Wesen genesen.

Das aber könnten die knapp 90 000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland anders sehen. Denn so wie Paul Spiegel, der radikale Islamisten ebenso zu den Feinden Israels zählt wie rechte und linke Extremisten, beurteilen das viele Juden in der Bundesrepublik. Toby Axelrod, die sich selbst als Kriegsgegnerin und Kritikerin der israelischen Palästinapolitik bezeichnet, findet es »erschreckend«, dass auf der bislang größten Antikriegsdemonstration Mitte Oktober in Berlin NPD-Mitglieder erschienen seien. In Deutschland könne sie deshalb nicht gegen den Krieg demonstrieren.

Und auch der Frankfurter Gemeinderat Marc Grünbaum befürchtet: »Wenn man bislang von einer hundertprozentigen Bedrohungssituation für die jüdische Gemeinde in Deutschland ausgehen konnte, dann ist diese nach den Anschlägen noch mal um 20 Prozent gestiegen.«