Diskussion um mögliche Kriegsverbrechen Izetbegovics

Von Dubai nach Den Haag

In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob auch der ehemalige bosnische Präsident Alija Izetbegovic vor das Haager Kriegsverbrechertribunal muss.

Das Päckchen, das vor wenigen Wochen in Den Haag eintrudelte, war rund 50 Kilogramm schwer und auch politisch von Gewicht. Es enthielt die Beschreibungen von 300 möglichen Kriegsverbrechen, die Aussagen von 350 Zeugen, rund 1 000 eidesstattliche Erklärungen, 15 Videokassetten, neun Audiokassetten und eine Liste mit den Namen von 800 getöteten Zivilisten. Zusammengenommen ist dies das Belastungsmaterial gegen den ehemaligen bosnischen Staatspräsidenten Alija Izetbegovic, das die Behörden der serbisch-bosnischen Republika Srpska in den vergangenen Jahren gesammelt haben und das nun den Stoff für eine Anklage wegen Völkermordes bilden soll.

Schon einmal war ein Versuch, Izetbegovic nach Scheveningen zu schicken, kläglich gescheitert. Bereits 1996, ein Jahr nach dem Ende des Bosnien-Krieges, hatte sich die Regierung in Banja Luka an das Haager Gericht gewandt, damals aber wurde die Klage abgewiesen, weil nicht genügend Beweise vorlagen.

Diesmal scheint die Sache jedoch ernst zu werden für Izetbegovic. So ernst, dass in der vergangenen Woche die ersten Gerüchte auftauchten, er habe sich bis auf Weiteres nach Dubai abgesetzt. Unter Berufung auf Izetbegovics Umgebung in Sarajevo meldete die jugoslawische Nachrichtenagentur Tanjug, der alte Mann werde aus dem Wüstenstaat nicht mehr zurückkehren. Dort nämlich weilte er, um einen Preis als »islamische Persönlichkeit des Jahres« entgegenzunehmen, dotiert mit einer Million Mark.

Die Aufregung um die vermeintliche Flucht Izetbegovics aber hielt sich in den Staatskanzleien von Sarajevo in Grenzen. »Izetbegovic ist bosnischer Staatsbürger und ein prominenter noch dazu. Warum sollte er nicht ein bisschen nach Dubai fahren«, gab sich Amer Kapitanovic, der Sprecher des bosnischen Premierministers Zlatko Lagumdzija gegenüber Jungle World betont gelassen. Dass Izetbegovic Schwierigkeiten mit dem Tribunal bekommen könnte, kann auch der Regierungssprecher nicht abstreiten: »Ich rechne fest damit, dass er zumindest vor dem Tribunal aussagen muss.«

Wahrscheinlich hat es Izetbegovic in Dubai am Ende doch nicht so gut gefallen wie erhofft. Bereits am Freitagnachmittag befand er sich wieder auf dem Weg nach Sarajevo, offenbar rechnet er fest damit, dort länger bleiben zu können. Die Regierungsvertreter von Dubai, die alljährlich die »islamische Persönlichkeit« küren, lud Izetbegovic jedenfalls nach Bosnien ein, um gemeinsam mit ihnen die islamischen Wurzeln des Landes zu studieren.

Ob er für seine historischen Studien noch genügend Zeit finden wird, ist in den letzten Tagen allerdings immer fraglicher geworden. Denn die Justizbehörden der Republika Srpska haben aus den Fehlern der ersten Klage von 1996 gelernt. Die neue Anklage passt exakt in die konjunkturelle Lage der gegenwärtigen Weltpolitik. So wird Izetbegovic vorgeworfen, von Kriegsverbrechen gewusst zu haben, die während des bosnischen Krieges zwischen 1992 und 1995 von der 7. Brigade des III. Corps der Armee begangen worden sein sollen. Diese Brigade aber - und das ist der politische Trumpf der bosnischen Serben nach den Ereignissen vom 11. September - bestand ausschließlich aus arabischen Söldnern, die Izetbegovic ins Land geholt hatte und die teilweise noch immer in Bosnien leben.

So richtig ins Kielwasser des weltweit angesagten Kampfes gegen den islamistischen Terror gerieten die Juristen aus Banja Luka jedoch erst durch die Tatsache, dass viele dieser ehemaligen Kämpfer wegen möglicher Verbindungen zum al-Quaida-Netzwerk Ussama bin Ladens nun auch von den Ermittlern der so genannten Allianz gegen den Terror gesucht werden. Eine perfekte Abstimmung also mit aktuellen politischen Neurosen. So etwas vermutet auch die von Izetbegovic gegründete muslimische Partei der demokratischen Aktion (SDA). »Das ist ein Versuch, die aktuelle politische Situation in Bosnien auszunutzen«, spielt die SDA in einer Presseerklärung auf die Jagd nach mutmaßlichen muslimischen Terroristen in Bosnien an.

Aber nicht nur der 11. September macht die bosnischen Serben hoffnungsfroh, Alija Izetbegovic vor das Uno-Kriegsverbrechertribunal bringen zu können. Auch die Anklage gegen die drei bereits in Scheveningen einsitzenden ehemaligen bosnisch-muslimischen Kommandanten Enver Hadzihasanovic, Mehmed Alagic und Amir Kubura wirkt ermutigend. (Jungle World, 45/01) Weil die drei doch an der Spitze der Söldner aus den arabischen Ländern standen, könnte der Prozess gegen sie noch einiges an Belastungsmaterial gegen Izetbegovic zutage fördern. Eines aber scheint jetzt schon klar. Eine Anklage wegen Völkermordes gegen Izetbegovic wird es vorerst nicht geben, denn das bloße Wissen um mutmaßliche Kriegsverbrechen seiner muslimischen Söldner und seine Funktion als »Ehrenkommandant« der Söldnerbrigade reicht nicht für eine solch schwerwiegende Anklage.

Izetbegovic setzt offensichtlich darauf, seine Kriegspolitik als nationalen Verteidigungskampf darzustellen. »Alija Izetbegovic wird vor Gericht nicht Alija Izetbegovic verteidigen, sondern das Recht eines besetzten Landes, sich selbst zu verteidigen«, hatte er schon vor Wochen seine mögliche Strategie skizziert.

Hinzu kommt für den herzkranken alten Mann, dass auch sein Sohn Bakir ins Visier der Ermittler geraten ist. Während des Krieges koordinierte er die Zusammenarbeit des bosnischen Geheimdienstes mit den Söldnertruppen. Gemeinsam mit seinem Vater soll er für die Einrichtung von 400 Gefangenenlagern auf dem bosnischen Territorium verantwortlich gewesen sein .

Um Izetbegovic endlich vor Gericht zu sehen, scheinen die Behörden der Republika Srpska sogar bereit zu sein, ihren Dauergast Radovan Karadzic an Carla del Ponte zu übergeben. »Wir haben eingestanden, dass Kriegsverbrechen von beiden Seiten verübt worden sind, und wir werden solche Fälle zur Anklage bringen«, versprach in der vergangenen Woche Sinisa Djordjevic, der in der Regierung der Republika Srpska für die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal verantwortlich ist.

Der Druck auf die bosnisch-serbische Exekutive in Banja Luka ist seit Carla del Pontes jüngsten Anmerkungen zur Situation in Südosteuropa noch größer geworden. Ende November vermutete die Vorsitzende des Uno-Kriegsverbrechertribunals Karadzic in der Republika Srpska. Die dortigen Behörden forderte sie auf, die Festnahme ihres einstigen Präsidenten in die Wege zu leiten. Der Gesuchte aber scheint davon unbeeindruckt und schreibt nach Informationen aus Sarajevo gerade an seinen Memoiren, die ihm den Friedensnobelpreis bescheren sollen.

Außerdem weist einiges darauf hin, dass Banja Luka und Den Haag seit Mitte November den Plan für die nächsten Verhaftungen abstimmen. Kern des derzeit wohl in Ausarbeitung befindlichen Abkommens: Die bosnischen Serben sorgen für die Verhaftung Karadzics, im Gegenzug stimmt del Ponte einer Anklage Izetbegovics zu. Weil Karadzic wohl ohnehin von Spezialeinheiten der Sfor verhaftet werden würde, wäre der Gesichtsverlust für die Regierung der Republika Srpska klein im Vergleich zu dem Erfolg, Izetbegovic in Den Haag erfolgreich verpfiffen zu haben.

Dass del Ponte den Justizbehörden in Banja Luka ohnehin schon eine Menge Vertrauen entgegenbringt, beweisen auch die Ereignisse der letzten Tage. Zum ersten Mal in der Geschichte des Tribunals überließ sie die Verurteilung zweier mutmaßlicher bosnisch-muslimischer Kriegsverbrecher einem bosnisch-serbischen Gericht in Banja Luka.