Zehn Jahre nach der Aussetzung der Parlamentswahlen

Abbruch ohne Aufbruch

Vor zehn Jahren haben algerische Militärs den zweiten Durchgang der Parlamentswahlen ausgesetzt, weil eine Mehrheit der Islamisten zu fürchten war.

Der Nachrichtensprecher findet kaum Zeit, die wichtigsten Neuigkeiten aus aller Welt durchzuhecheln, da wird auch schon aus dem Hintergrund verlangt, eine Direktschaltung zum Präsidentenpalast freizugeben. Der Staatschef, neben ihm sitzt der Präsident des Verfassungsgerichts, wirkt etwas bleicher als sonst. In der rechten Hand hält er ein Blatt Papier, seine Rücktrittsurkunde. Kurz darauf wird er bestätigen, dass er sein Amt zur Verfügung gestellt hat.

So haben die Zuschauer des algerischen Fernsehens, die an einem Januarabend vor zehn Jahren die 20-Uhr-Nachrichten verfolgen wollten, den Abgang von Chadli Benjedid miterlebt. Das Ende seiner elfjährigen Präsidentschaft bedeutete den Zusammenbruch der Einparteiendiktatur des FLN (Front de libération nationale, Nationale Befreiungsfront). Bei den ersten freien und nicht von Betrug geprägten Parlamentswahlen in Algerien, deren erster Durchgang am 26. Dezember 1991 stattfand, konnte der Fis (Islamische Rettungsfront) eine deutliche Mehrheit der Parlamentssitze erwarten - in einer Phase weltweiten Rückgangs der sozialistischen Idee auch mangels zugkräftiger Alternativen zum Regime. Auch wenn der Fis nur von knapp 25 Prozent der Wahlberechtigten gewählt worden war, das Mehrheitswahlrecht sowie eine deutlich über 40 Prozent liegende Wahlenthaltung machten es möglich.

Die Parlamentswahl wurde deswegen kurz vor dem zweiten Wahlgang von einem Teil der Armee ausgesetzt. Ihm schlossen sich in einem Nationalen Komitee zur Rettung Algeriens einige politische Kräfte an, darunter auch die in die Defensive geratenen ehemaligen Kommunisten. Ein anderer Teil der Armee sowie der amtierende Präsident hatten sich dieser Initiative widersetzt, weshalb Chadli zum Rücktritt genötigt wurde. Sie sprachen sich dafür aus, die Islamisten durch ihre Einbindung in die Macht zu »bändigen. Denn nach der Verfassung habe der Staatschef ja das letzte Wort und könne das Parlament, auch wenn es möglicherweise eine Mehrheit der Islamisten gebe, später jederzeit auflösen.

Der Sinn dieses Manövers ist bis heute umstritten. So macht Miloud Brahimi, ein Rechtsanwalt in Algier, der 1992 für den Abbruch der Wahlen war, in der Tageszeitung Le Matin geltend, nach einem Sieg der Islamisten wäre über Algerien ein totalitäres Regime verhängt worden. Andere Autoren in derselben Zeitung fragen, was denn im Falle einer vollständigen Durchführung der Wahlen noch schlimmer hätte kommen können.

Doch im Rückblick auf die zehnjährige Phase des inneren Krieges lautet die eigentlich interessante Frage heute: Welche Chancen haben der algerische Islamismus einerseits und die ihm entgegengesetzten gesellschaftlichen Kräfte andererseits? Fakt ist, dass in den Jahren nach 1992 auf nur kurzfristig vorausschauende Weise und mit rein repressiven Mitteln einem zutiefst politischen Problem beizukommen versucht wurde.

Der zehnte Jahrestag des Beginns der Krise fällt in eine neue Periode. So ist am 19. Dezember 2001 das Assozierungabkommen zwischen der EU und Algerien abgeschlossen worden; ähnliche Verträge der EU existierten bereits mit Marokko und Tunesien. Am darauffolgenden Tag wurde ein Partnerschaftsabkommen mit der Nato unterzeichnet, und Verhandlungen über einen Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation WTO sind im Gange. Die Trümmer der einstigen staatssozialistischen Entwicklungsdiktatur, die sich seit 1992 in der Dauerkrise befindet, machen damit wohl endgültig einer neuen soziopolitischen Konstellation Platz.

Infolge des Abkommens mit der EU wird Algerien künftig seine Wirtschaft liberalisieren, sich für die europäische Wirtschaft öffnen, Importbarrieren abbauen und Investitionshindernisse beseitigen. Bereits im Dezember hat Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika einen entsprechenden Beschluss per Dekret angenommen. Demnach werden zugleich die Importsteuern für industrielle Fertigprodukte gesenkt und jene für Roh- und Zusatzstoffe, wie sie die nationale Industrieproduktion benötigt, erhöht. Damit wird das, was etwa von einer algerischen Metallindustrie heute noch übrig ist, in absehbarer Zukunft wohl definitiv unter die Räder der europäischen Konkurrenz geraten.

So wird Algerien ungleich stärker als bisher dem direkten Zugriff westlicher Interessen ausgesetzt sein. Dabei dürften sich die europäischen Hegemonialmächte auch ein zumindest indirektes Einblicksrecht in die politische Verwaltung herausnehmen, wofür sich der Menschenrechtsdiskurs prächtig instrumentalisieren lässt. Nun droht großen Teilen der Bevölkerung noch einmal eine rapide und spürbare Verschlechterung ihres Lebensstandards.

Welchen politischen Gewinn werden die Islamisten aus dieser neuen Situation schlagen? Das wird von ihrer Fähigkeit abhängen, sich gesellschaftlich zu verankern. Der Fis war in den Jahren 1989 bis 1991 aufgestiegen, indem er alle möglichen Frustrationen sowie großteils irrationale und widersprüchliche Hoffnungen gebündelt hatte. So etwas lässt sich nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre aber nicht einfach wiederholen.

Nach der Überschwemmung des Stadtteils Bab-el-Oued in Algier am 10. November, bei der 800 Menschen starben, konnte man jedoch eine Ahnung von der Fähigkeit der Islamisten zu zäher Kleinarbeit bekommen. So ließ sich beobachten, wie die von Staatspräsident Bouteflika ausgegebene fatalistische Erklärung, es sei »der Wille Gottes« gewesen, allgemein zurückgewiesen wurde und jedermann nach rationalen Erklärungen suchte. Genannt wurden die Unfähigkeit der Behörden, der Regierung, die Baumafia ...

Scheinbar im Widerspruch dazu haben jedoch Islamisten, die in Wohlfahrtsorganisationen tätig sind, eindeutig von der Katastrophe profitiert. Mittlerweile sind zahlreiche Einwohner des Armenviertels Bab-el-Oued fest davon überzeugt, die Regierung habe ihren Stadtteil absichtlich »bestraft«, wegen der Sympathie eines Teils seiner Bewohner für die Islamisten.

Zugleich ging die durch ihr unfähiges und borniertes Agieren zutiefst diskreditierte Regierung sogar so weit, islamistischen Wohltätigkeitsvereinen die Verteilung einiger Hilfsgüter anzuvertrauen. Denn die Behörden hätten sie vermutlich nur veruntreut.

Die Pariser Tageszeitung Le Monde fragte kürzlich Sid Ahmed Ghozali, den algerischen Premierminister im Januar 1992, ob eine Partei wie der Fis erneut »ein solches Gewicht« bei Wahlen erhielte, falls sie denn antreten könnte. »Nein«, antwortete der ehemalige Regierungschef, »ihr Gewicht wäre größer.« Ghozali zufolge würden sich im Falle nicht manipulierter Wahlen 75 Prozent der Bevölkerung der Stimme enthalten. »Und unter den 25 Prozent«, die wählen gingen, »hätten die Islamisten eine erdrückende Mehrheit«.