Die zweite Flucht

Mehr als 100 000 Roma warten in mazedonischen Lagern auf ihre Rückkehr ins Kosovo. Die Chancen, ihre Herkunftsorte jemals wieder zu sehen, sind gering.

Selbst hier lassen sie uns nicht in Ruhe«, klagt Alija Skender Stimle. »Manchmal kommen die albanischen Nationalisten sogar vor das Lager und schießen in die Luft, um uns zu bedrohen.«

Der 49jährige Stimle musste mit seiner Familie im Sommer 1999 aus dem Kosovo nach Mazedonien fliehen, weil sein Haus von albanischen Nationalisten niedergebrannt wurde. Heute lebt er mit über tausend anderen Flüchtlingen in den heruntergekommenen Baracken des Lagers für Kosovo-Roma in Shutka, einem Vorort der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Eingepfercht auf engstem Raum, eingezäunt und von der Polizei bewacht, warten sie seit über zwei Jahren auf die Rückkehr ins benachbarte Kosovo.

»Wir kommen aus Urosevac«, erzählt der Familienvater. »Das liegt keine 50 Kilometer von hier auf der anderen Seite der Berge.« Er zeigt auf das verschneite Gebirge, das sich am Horizont abzeichnet. »Aber es ist viel zu gefährlich zurückzukehren«, sagt er resigniert. Die anderen Flüchtlinge, die sich vor dem Tor des Lagers versammelt haben, weil die Polizisten am Eingang Journalisten nicht hineinlassen, nicken zustimmend.

Stimle und die anderen sind Opfer der »größten Katastrophe, die Roma nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen hat«. So bezeichnet das European Roma Rights Center (ERRC) in Budapest die Vertreibung der Roma aus dem Kosovo. Begonnen hat sie mit dem von der Nato erzwungenen Rückzug der serbisch-jugoslawischen Truppen aus der umkämpften Provinz. »Nach der Rückkehr ethnischer Albaner in das Kosovo im Juni 1999 und dem Einmarsch von Nato- (Kfor-) Truppen, führten ethnische Albaner eine ununterbrochene und brutale Kampagne der ethnischen Säuberung gegen die Roma im Kosovo und andere Personen durch, die als 'Zigeuner' bezeichnet wurden«, heißt es in dem ERRC-Report.

Weiter heißt es: »Albaner ermordeten und entführten Roma, vergewaltigten sie vor ihren Familien, brachen in Häuser ein und bedrohten sie mit dem Tod, falls sie am nächsten Morgen noch da sein würden. Sie raubten in großem Ausmaß Eigentum aus Häusern von Roma, hielten Roma auf den Straßen an und stahlen ihre Autos. Ganze Roma-Siedlungen wurden niedergebrannt.«

Der in Köln ansässige Rom e.V. schätzt, dass seit Juni 1999 über 100 000 Roma aus dem Kosovo vertrieben wurden, 15 500 Häuser seien zerstört und geplündert, 40 000 Roma physisch verletzt oder psychisch schwer traumatisiert worden. Etwa 1 000 Roma seien von albanischen Nationalisten ermordet worden oder in Lagern an fehlender medizinischer Versorgung gestorben.

Auch die Angehörigen anderer nicht albanischer Minderheiten im Kosovo erlitten ein ähnliches Schicksal. Neben den Roma mussten nach Zahlen internationaler Flüchtlingshilfsorganisationen etwa 200 000 weitere Menschen, hauptsächlich Serben, aber auch muslimische Slawen, Türken und Juden aus dem Kosovo flüchten. Auch von ihnen wurden Hunderte ermordet, serbische Stellen gehen sogar von über tausend aus.

Dass diese Verbrechen von den internationalen Agenturen im Kosovo nicht skandalisiert werden, ist wenig verwunderlich. Die 38 000 Kfor-Soldaten, darunter 4 700 Angehörige der Bundeswehr, und die 14 000 Zivilbeschäftigten der Uno-Übergangsverwaltung (Unmik) scheinen außer Stande zu sein, den Terror zu stoppen.

Selbst die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kommt nicht umhin, vor der fortgesetzten Bedrohung der 150 000 Nichtalbaner im Kosovo zu warnen. Im vergangenen Oktober schrieben die internationalen Beobachter, die Situation der Roma im Kosovo habe sich seit 1999 zwar verbessert, aber »ihre Sicherheit bleibt gefährdet«.

An der deprimierenden Situation wird sich so bald wohl nichts ändern, denn die Gewaltakte albanischer Nationalisten aus den Reihen der ehemaligen UCK blieben bislang weitgehend ohne Folgen. Die Schweizer Flüchtlingshilfe kommt in einem Bericht vom September des vergangenen Jahres zu dem Schluss: »Den verschiedenen Gesprächspartnern von internationalen Organisationen war kein einziges Beispiel bekannt, bei denen die Urheber von Morden an Minderheitsangehörigen gefunden und abgeurteilt wurden. Es herrscht eine 'Kultur der Straflosigkeit'í des rechtsfreien Raumes.«

Obwohl die 50 Kilometer nach Urosevac unüberwindbar scheinen, hat es Alija Skender Stimle noch nicht aufgegeben, ins Kosovo zurückkehren zu wollen. »Wo sollen wir sonst hin?« fragt er. Neben den miserablen hygienischen Bedingungen und der prekären Versorgungssituation im Lager, bedrückt die Opfer der albanischen Nationalisten vor allem die Unfähigkeit oder der Unwille der Nato, die Angriffe zu stoppen. »Wir sind auch hier in Mazedonien nicht sicher. Die Regierung gewährt uns immer nur eine viermonatige Duldung«, sagen sie.

Seitdem die UCK vor einem Jahr auch in Mazedonien aktiv geworden ist, fürchten die Kosovo-Roma eine zweite Vertreibung. Auch unter den etwa 100 000 mazedonischen Roma wächst die Furcht vor Übergriffen wie im Kosovo. Aus einigen Dörfern im Grenzgebiet mussten Roma-Familien bereits fliehen. Stimle weiß nur einen Ausweg. »Europa muss uns helfen«, fordert er.

Doch Europa ist schon längst tätig. Allerdings ganz anders, als Stimle es sich wünscht. Die Regierungen der EU-Staaten unternehmen alles, um sich mehrere Zehntausend Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo vom Leib zu halten. Manche schaffen es trotzdem, sogar bis nach Deutschland. In den Statistiken des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) lässt sich das Schicksal der Kosovo-Roma verfolgen. In den Monaten vor dem Beginn der Nato-Bombardements im März 1999 beantragten jeden Monat nur wenige Hundert Asyl.

Nach dem Einmarsch der Kfor und der Machtübernahme der albanischen Nationalisten im Juni 1999 stiegen die Zahlen rapide an: 13 280 Kosovo-Roma waren es dem BAFl zufolge allein zwischen Juli 1999 und Dezember 2001. So gut wie keiner wurde anerkannt. Weil die Roma aber wegen der offensichtlichen Gefährdung im Kosovo nicht abgeschoben werden können, werden ihnen nun alle paar Monate kurzzeitige Duldungen erteilt.

Um die ungeliebten Flüchtlinge dennoch wieder loszuwerden, hatten die Innenminister der Länder am 8. November des vergangenen Jahres eine gute Idee. Sie baten Bundesinnenminister Otto Schily, »in Verhandlungen mit der Bundesrepublik Jugoslawien darauf hinzuwirken, dass grundsätzlich alle ausreisepflichtigen jugoslawischen Staatsbürger, z.B. auch nichtalbanische Minderheiten aus dem Kosovo, in das übrige Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden können«.

So könnten demnächst Opfer der Nato-Bombardements und der von den Nato-Staaten protegierten albanischen Nationalisten zum zweiten Mal vertrieben werden - ausgerechnet in das Land, dem immer vorgeworfen wurde, ethnische Säuberungen durchzuführen.