Es hört nicht auf

Großes Leid, deutsches Leid. Ein Passionsweg in zehn Stationen durch Günter Grass' neues Buch »Im Krebsgang«.

Die Story

Ein alternder Autor bittet einen Journalisten, für ihn, der es nicht mehr vollbringen kann, die Geschichte des Flüchtlingsschiffes »Wilhelm Gustloff« zu erzählen, das von einem sowjetischen Torpedoboot versenkt wurde. Dieser Journalist, Paul Pokriefke, ein durchschnittlicher Typ, linksliberal, gescheiterte Ehe, ein Kind, wechselnde Beziehungen und gesichertes Einkommen, hat seine Ausbildung bei der Springer-Presse erfahren, ist dann zur taz gewechselt und schreibt heute für Agenturen. Pokriefke ist der Richtige für den Job als Ghostwriter, denn er wurde genau zu der Stunde geboren, als das KdF-Schiff »Wilhelm Gustloff« in der Ostsee versank, und zwar von einer Frau, die soeben aus dem eiskalten Meer gefischt worden war. Er wurde gewissermaßen das erste neue Leben nach diesem Untergang, der mehreren tausend deutschen Flüchtlingen das ihrige nahm.

Dieser Paul Pokriefke erzählt zunächst die Geschichte seiner Mutter, die selbstverständlich - es ist ein Buch von Günter Grass - aus Danzig kommt, und die, da Opfer, noch 50 Jahre später völlig fixiert ist auf dieses Unglück. Zugleich erzählt der um Neutralität bemühte Journalist die Geschichte des Nazis Wilhelm Gustloff, nach dem das Schiff benannt wurde, er erzählt vom Schicksal des jüdischen Attentäters David Frankfurter, der Gustloff 1936 in der Schweiz erschoss, und er erzählt die Geschichte des sowjetischen U-Bootkommandanten Alexander Marinesko, der, so will es Grass, trunksüchtig war und auch beim Abschuss der »Gustloff« keine korrekte Uniform trug, kurz, der sich ganz wie ein Russe benahm.

Schließlich aber, und hier beginnt - nicht lachen! - die eigentliche Geschichte, erzählt dieser Pokriefke von seinem Sohn, der unter www.blutzeuge.de eine Website betrieben hat, auf der er angestiftet von seiner Großmutter, des Journalisten traumatisierter Mutter, sowohl das Schiff verherrlichte und seinen Untergang beklagte, als auch den Nazi Gustloff lobte. Dieser Sohn wiederum, der sich im Chatroom »Wilhelm« nennt, bekommt Kontakt zu einem Jungen, der sich »David« nennt und sich als Jude zu erkennen gibt. Nach einem heftigen, aber auch liebevollen Schlagabtausch - Grass nennt die beiden Jungs »Freundfeinde« - treffen sich »David« und »Wilhelm« in Schwerin, der Geburtsstadt Gustloffs. Dort an Gustloffs Grab, wo zur Nazizeit ein Ehrenmal stand, erschießt der junge Nazi den Jungen, der sich »David« nennt, mit vier Schüssen, so vielen, wie Frankfurter einst brauchte, um Gustloff zu erschießen.

Wem das noch nicht reicht: Dieser Junge namens David heißt eigentlich Wolfgang und ist in Wirklichkeit »arisch«, wie sich vor der Jugendstrafkammer herausstellt. Dennoch beharrt der kleine Pokriefke darauf, das Richtige getan zu haben, er habe sich als Deutscher gewehrt. Und seine Eltern mögen ihn noch immer, und auch die Eltern des Toten wollen ihn nicht zu hart bestraft wissen. Diese zwei Elternpaare, 68er und Nachkriegskinder, sehen ein, dass sie ihre Kinder falsch erzogen haben, blabla. Jedenfalls kriegt der kleine Nazi dann ein paar Jahre Jugendknast.

Der Vater lebt weiter, alle leben weiter, nur die Toten nicht, es scheint so, als habe der Kleine sich besonnen und sich im Gefängnis von seinem Kult um Gustloff gelöst. Doch nein: Im Netz findet sich bereits ein neuer Wahn. Unbekannte, hinter denen die Freundin des Sohnes vermutet werden soll, betreiben bereits eine Website zu Ehren des Inhaftierten. »Im Krebsgang« endet mit den Worten: »Das hört nicht auf. Nie hört das auf.«

Das steht auf 216 Seiten. Und es ist noch längst nicht alles.

Wer ist wer?

Der alternde Schriftsteller, der junge Hilfe braucht, ist natürlich Grass, der sich mittels dieses Tricks zugleich belastet und überhöht. Er, Grass, habe sich nie des Themas Vertreibung angenommen, das ist die Selbstanklage. Nun tut er es doch noch - ziemlich tricky, wie er wohl glaubt.

Der Journalist, der hier zugleich als Sohn und Vater fungiert, ist, wie gesagt, ein 68er. Er muss sich sowohl bei der Springer-Presse, die immer nur ganz abstrakt so genannt wird, die Finger schmutzig machen, wie auch bei der taz, die der Nobelpreisträger für ein außerordentlich linksradikales Organ zu halten scheint. Das läutert ihn und er wird, was die Leserinnen und Leser von Grass wohl in ihrer Mehrzahl sind: ein Teil der von Schröder wie von Stoiber so genannten Neuen Mitte.

Volle Chatrooms

Eine tragende Rolle im »Krebsgang« spielt das Internet, es ist das Kommunikationsmittel der ganz Jungen.

Die Generation der Großeltern, verkörpert in der Mutter des Ich-Erzählers, pflegt vor allem den persönlichen Kontakt. Sie redet - für Grass immer ein Zeichen von Zuhause - gern im Dialekt. Der Erzähler ist Journalist. Er und Seinesgleichen verständigen sich mittels Büchern und Zeitungen, direkter Kontakt liegt ihnen fern. Die Vertreter dieser Generation sind geschieden, sie arbeiten zu lange und sie wissen wenig voneinander. Ihre Kinder schließlich haben kaum noch persönlichen Kontakt. Der kleine Pokriefke, seine Freundin, der vermeintliche »Judenjunge« - sie alle sind Einzelgänger, trinken nicht, haben nicht einmal Sex. Sie sind Gefangene ihrer Bildschirme. Das Internet ist ihnen ein Kommunikations- und Liebesersatz. Im Internet findet der Nazi wie sein Gegenspieler den einzigen Freund.

Grass' Unerfahrenheit im Umgang mit dem neuen Medium ist offensichtlich. Der junge Pokriefke redet stets - per E-Mail - mit »dem Internet«, das abstrakt und gefährlich erscheint. Die Chatrooms sind »voll« wie Wohnräume, ein Thema »schlägt« hier »virtuelle Wellen«. All das wäre nicht weiter schlimm, würde nicht an solchen Details sichtbar, dass Grass' Texte anscheinend nicht mehr lektoriert werden, seitdem er den Luchterhand Verlag verlassen hat.

Nation und Geschlecht

So fremd wie Grass das Internet, ist dem Vater der Sohn. Der Vater kümmert sich nicht um den werdenden Jungnazi, daher fällt dieser unter die Frauen. Zunächst leidet er unter seiner Mutter, deren linkes Geschwätz er nicht mehr hören mag, dann wendet er sich der Großmutter zu. Sie wird als eine schlanke Person beschrieben, ohne große Brüste, sie konnte ihrem Sohn keine Milch geben.

Grass stellt sie als eine Art Mannweib vor, selbstbewusst, vorlaut, mutig, zugleich aber irrational. Sie schenkt dem Enkel den Computer, der alles »Unglück« anfangen lässt, und holt den Halbwüchsigen zu sich nach Schwerin. Die Mutter, die in Mölln lebt, lässt ihn gehen, er könne allein auf sich aufpassen. Die Großmutter stopft den Jungen nun mit ihrer blinden Liebe zur »Wilhelm Gustloff« und zur KdF voll, aber - sie ist ja eine Frau - auch zu Stalin.

Frauen, so lernt man bei Grass, suchen und brauchen Führung. Bekommen sie keine, bleiben sie unsicher, lassen sich »dick machen« oder »hängen« jemandem ein Kind »an«, und zerstören schließlich die, die sie auf die Welt gebracht haben. Die Frauen machen sich also schuldig, denn sie gebieten dem Kind einerseits keinen Einhalt und verwirren ihm andererseits die Sinne.

Ein Junge aber, der durch die Weiber verweichlicht ist, sehnt sich bei Grass nach Stärke, und so kommt es, dass der jüngste Pokriefke von den Nazis schwärmt, aber auch die Sowjets für ihre Kriegskunst lobt und sogar Israelis schätzt, sofern sie Soldaten sind. Dass Gustloffs Attentäter Frankfurter nach seiner Haft nach Palästina ging und später einen Job beim israelischen Verteidigungsministerium hatte, findet der von Grass erfundene Jungnazi super.

Der Vater fehlt. Daher fühlt der Sohn sich verraten. Erst gegen Ende des Buches ermannt sich der Vater, sucht den Sohn im Knast auf, um ein richtiges Gespräch mit ihm zu führen. Prompt zerstört der Sohn das Plastikmodell der »Wilhelm Gustloff«, das er sich im Gefängnis bauen durfte, und versucht, mit seinem Vater ins Reine zu kommen. Hätte Paul Pokriefke schon früher den Kontakt zu seinem Sohn gepflegt, hätte er also vielleicht verhindern können, dass dieser zum Mörder wird.

Am Schluss ist es wieder eine Frau, die das verwaiste und schlimme Erbe des jüngsten Pokriefke weiter zu pflegen versucht, seine Freundin, die treu zum Mörder hält und ihn verehrt.

Das Deutsche

Wo aber führerlose Frauen unermannte Männer verführen, da sind wir mitten in Deutschland. Natürlich ist »Im Krebsgang« eine tiefdeutsche Geschichte, auch wenn das Drama außer Landes beginnt, mit dem erschossenen Gustloff in der Schweiz und dem auf offenem Meer versenkten Schiff. Doch im heutigen Auslandsdeutschland, also Danzig, wird es ein Inlandsdrama, das sich in der BRD und der DDR fortsetzt. Die Großmutter bleibt in Schwerin, ihr Sohn geht in die geteilte Stadt Berlin (West), und dessen Sohn wiederum muss in Mölln aufwachsen.

Und alle leiden. Die Großmutter leidet darunter, dass sie in der DDR nicht von der Vertreibung reden darf. Der Vater leidet, denn er ist so unentschlossen, will Mutters Sohn nicht sein und nicht Sohnes Vater. Und der Enkel leidet, da man ihm die rechte Empörung verbietet. Sowohl sein West- wie auch sein Ostlehrer untersagen ihm, dem Nazi, einen Vortrag über KdF und ihre Leistungen zu halten. So bleibt laut Grass das Problem des Jungen unaussprechlich und entlädt sich schließlich in dem Mord.

Großes Leid. Deutsches Leid.

Die Juden

Juden kommen in dem Buch nur indirekt vor. Alles, was der Erzähler über den Gustloff-Attentäter David Frankfurter weiß, weiß er aus dem Völkischen Beobachter oder anderen deutschen Quellen. Eine Recherche anhand israelischer Quellen scheint Grass offensichtlich nicht für nötig gehalten zu haben. Der Holocaust, der ja nicht aufgehört hatte, als die »Wilhelm Gustloff« unterging, bleibt gleichfalls ausgespart. Nur einmal - ausgerechnet während eines Geschlechtsaktes - sah die Großmutter in Danzig »Knochenberge«.

Doch hier geht es um Deutschland. Und seine Söhne. Der falsche »David«, der andere Sohn, der zweite getötete Enkel, ist Grass keine Abhandlung wert. Er - von dem Grass schreibt, dass sein »Nachweis arischer Herkunft« vorliege - präsentiert sich als Jude, er verleugnet somit seine wahre Identität, macht sich lächerlich und muss schließlich sterben. Er ist noch verlorener als der Mörder. Seine Eltern jedenfalls wollen den Mörder ihres Sohnes nicht hart bestraft sehen. Umstandslos verzeihen sie dem Mörder, in diesem Buch gegen das Vergessen. Sie sehen ihren Sohn und seinen gewaltsamen Tod vor allem als Ergebnis ihrer eigenen Erziehungsfehler an.

Das Treffen in Schwerin

Es gibt in Grass' Werk einen Vorläufer des Treffens zwischen »David« und »Wilhelm«, den Wiedergängern von Frankfurter und Gustloff. In einem Kapitel von »Mein Jahrhundert« lässt Grass Gottfried Benn und Bert Brecht sich am Grabe Kleists treffen, und gemeinsam sinnen die alten Freundfeinde über Deutschland nach. Sie stehen, da sie sich ihre Hitlerei und ihren Stalinkult gegenseitig noch verzeihen können, für ein noch intaktes Deutschland, das sich erst durch die Spaltung auflöste. Sie fürchten vor allem die »Nachgeborenen« und ihr Vergessen.

Diese Nachgeborenen treffen sich nun im Chatroom, schreiben über Tischtennis, lernen einander vertrauen und frotzeln auf eine Weise, die nur einem Großschriftsteller wie Grass einfallen kann: »Tschüss, du geklontes Nazischwein«, sagt der eine. »Mach's gut, Itzig«, sagt der andere. Klar, dass solche Feindfreunde sich kurz darauf in Schwerin treffen, obwohl sie sich gerade noch gegenseitig den Tod gewünscht haben, und klar auch, dass sie erst mal ein Eis essen gehen. Dann aber muss der, der sich für einen Juden hält, jenem, der bei Grass kein richtiger Nazi ist, leider die Gefolgschaft verweigern, und auf das Grab Gustloffs spucken. Darum wird er getötet. Von einem Jungen, der das Deutsche in sich unbezwingbar pochen hört.

Reden ist nie genug

Und dieses Deutsche pocht in des Enkels Schläfen, weil es fort ist. Sein Vater hat mit ihm nie über die Vertreibung reden wollen, seine Mutter hat ihm nur Auschwitz entgegengehalten. Die Großmutter jedoch hat ihn erhört, denn auch sie hat ihr Deutschland verlieren müssen, und in der DDR hatte man ihr ein Redeverbot auferlegt. Grass meint, niemand habe über die Vertreibung geredet. Daher keimt jetzt der Nationalsozialismus in den Kindern neu auf.

Nun kann ich mich ganz gut erinnern, dass allein der Untergang der »Wilhelm Gustloff« zumindest in den Siebzigern mehrfach Thema sowohl von HörZu-Doppelseiten als auch von Fernsehdokumentationen war. Alle Berichte verschweigen gern, dass das Schiff zwar mit Flüchtlingen, aber auch mit Soldaten beladen war, dass es ein Teil der deutschen Kriegsmarine war und einen Tarnanstrich trug, kurz, dass es von einem sowjetischen U-Boot nicht als Flüchtlingsschiff erkannt werden konnte. Außerdem gibt es, wie Grass selbst einräumt, einige Bücher, es gibt Überlebendentreffen und es gab in den Fünfzigern sogar einen Film mit den damals nicht eben unbedeutenden Schauspielerinnen Brigitte Horney und Sonja Ziemann.

Das alles aber war noch nicht genug.

Das Schweigen

Denn es gibt eine Schuld des Schweigens, von der Grass sich nun reinwaschen will. Und es ist nicht wirklich nur ein deutsches Schweigen, es kommt aus der Fremde. Der Vater kann in einer der Schlüsselszenen dieses (muss es noch erwähnt werden?) hunds-miserabel geschriebenen Buches seinem Sohn nichts sagen, denn ihm fällt nur »Stuss« ein, »amerikanischen Filmen nachgeplappert«.

Die Deutschen sind ihrer Sprache und ihrer Geschichte beraubt. Indirekt durch amerikanische Filme und direkt, indem sie die Teilung zuließen und darüber schwiegen. Nur wenn links, wo Grass sich noch immer verortet, der Nationalismus zugelassen wird, werden die Nazis gerettet werden können. Und auch die Juden und »falschen« Juden, die andernfalls erschossen werden.

Im Umkehrschluss heißt das, die Amerikaner und die Juden müssten aufhören, Deutschland zu bedrängen. Sonst kommt es knüppeldick: »Und als (...) der Jude Herschel Grünspan in Paris den Diplomaten Ernst vom Rath erschoss, gab es als Antwort die Reichskristallnacht.« Solche Leute haben Deutschland zerrissen, zerteilt und entnormalisiert. Wie schreibt Grass über Frankfurter und Gustloff? »Spinner, der eine wie der andere.«

Zwar ist es dem Nobelpreisträger nicht gelungen, sich als derjenige zu verkaufen, der als einziger die Vertreibung thematisiert habe. Viele Kritiker erinnern daran, dass auch Arno Schmidt, Siegfried Lenz, Walter Kempowski, Alexander Kluge, Horst Bienek und andere dieses Feld beackert haben. Doch Grass hat es mit seinen merkwürdigen Ansichten über Juden, den Nationalismus und die deutschen Wunden geschafft, dass im Feuilleton durchweg über die Vertreibung als »Unrecht« geredet wird, das die Menschenrechte verletzt habe. Und er hat bislang 500 000 Bücher verkauft.

Leute wie Grass

Günter Grass ist kein Martin Walser, und das Lob, das ihm von rechts zuteil wird, ist ihm sogar peinlich. Grass ist nichts weiter als ein deutscher Gefühlsromantiker, der sich in dieser Welt nicht anders zurechtfindet als mit Ansichten, die sich aus den Traditionen speisen. Er ist, wie es das Feuilleton nennt, ein Mahner. Dafür unterwirft er alles mal dem Deutschen, mal der Liebe, irgendwie passt es dann immer.

Heiner Müller schrieb 1957 in einer Rezension über Grass' ersten Gedichtband: »Aufgabe der Dichtung bleibt die Verteidigung des Menschen gegen seine Verwurstung und Verdinglichung. Leute wie Grass haben uns und wir haben ihnen nichts zu sagen.« Das gilt bis heute.

Günter Grass: Im Krebsgang. Steidl Verlag, Göttingen 2002, 216 S., 18 Euro