Medaillenspiegel nach sozioökonomischen Kriterien

The Games Must Go Wrong

Wirtschaftswissenschaftler haben einen Medaillenspiegel nach sozioökonomischen Kriterien entworfen. Anspruch auf perfekte Prognosen erheben sie nicht.

Nach den Olympischen Spielen von Lake Placid wird die Liste der erfolgreichsten Nationen so aussehen: Deutschland liegt mit elf Goldmedaillen auf dem ersten Platz, es folgen Russland mit zehn und die USA mit sieben. So sieht eine Vorhersage aus, die jedoch nicht wie üblich von Sportexperten, sondern zum ersten Mal von Wirtschaftswissenschaftlern gemacht wurde.

Die US-Ökonomen Daniel K.N. Johnson und Ayfer Ali haben für ihre jetzt unter anderem vom renommierten Fachmagazin New Scientist veröffentlichten Studie über die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für Olympia-Teilnahmen und Medaillengewinne die Daten aller Spiele von 1952 bis 2000 ausgewertet. Die Platzierungen wurden in Relation zur wirtschaftlichen Stärke der einzelnen Nationen gesetzt.

Johnson, Ökonom an der Harvard University sowie Assistenzprofesssor für Wirtschaft am Wellesley College, und seine Kollegin Ali, die derzeit ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften in Harvard beendet, machten gleich zu Beginn ihrer Forschungsarbeiten eine interessante Entdeckung. Während es für die meisten Zuschauer so aussieht, als kämen immer mehr Athleten aus kleinen und armen Ländern zu Olympischen Spielen, ist die Zahl der Teilnehmer aus den reichen Industrieländern überproportional gestiegen. Reiste zu den Olympischen Sommerspielen 1952 in Stockholm noch jeder fünfte Sportler aus einem der zehn finanzstärksten Staaten der Welt an, so stammte 2000 in Sidney jeder Dritte aus so genannten High-Income-Nations. Ähnlich sieht es bei den Winterspielen aus: 1952 kam jeder Zwölfte aus einem reichen Land, 1998 jeder Zweite.

»Während der Pool der Athleten ständig erweitert wird, ist gleichzeitig auch die Konzentration der Teilnehmer aus reichen Ländern immer stärker geworden«, schreiben Johnson und Ali. Das liegt wohl unter anderem daran, dass die Kosten für die Ausbildung und das Training eines Sportlers mit Medaillenchancen immens sind. Arme Länder überlegen es sich deshalb ganz genau, wessen Teilnahme sie für aussichtsreich halten.

Die Kosten, die ein Staat für einen Medaillengewinn aufwenden muss, sind nach einer Berechnung der beiden Ökonomen gewaltig. Finanziert werden müssen der Lebensunterhalt der Athleten, die Wettkampf- und Trainingsstätten, die Betreuer und Ärzte, das Material und die Materialforschung.

Aber auch die Teilnahme an den Olympischen Spielen ist von mehreren Determinanten abhängig, die von den Wissenschaftlern in einer höchst kompliziert aussehenden linearen Funktion zusammengefasst wurden. Das Pro-Kopf-Einkommen, die Einwohnerzahl, das politische System des Landes, die Wetterverhältnisse im Winter sowie frühere Teilnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Auswahl einzelner Athleten. Bei einem durchschnittlichen Einkommen von 1 000, so die von Johnson und Ali entwickelte Faustformel, werden vier bis fünf Teilnehmer zu Olympischen Sommerspielen geschickt, bei Winterspielen sind es viermal so viele.

Darüber, wer dann wirklich mitfahren darf, entscheidet am Ende häufig das Geschlecht. Bei wirtschaftlich angespannter Lage eines Landes gibt es eine starke Tendenz, zunächst männliche Athleten zu Sommerspielen zu entsenden. Die Ökonomen fanden heraus, dass erst ein bestimmtes Wohlstandslevel oder eine größere Bevölkerungszahl die Teilnahme von Frauen begünstigt. Für je tausend US-Dollar Pro-Kopf-Einkommen einer Nation oder bei einer Bevölkerungszahl von 25 Millionen werden durchschnittlich zwei Sportlerinnen zu Olympia geschickt.

Die einzige Ausnahme dieser mathematischen Gleichungen bildet die gastgebende Nation. Sie stellt 210 Teilnehmer mehr als normal, völlig unabhängig von den wirtschaftlichen oder politischen Daten. Auch die Nachbarn des Gastgebers fühlen sich angespornt und entsenden durchschnittlich 42 Sportler mehr, als andere Staaten das normalerweise tun würden.

Auch das politsche System eines Landes hat Einfluss auf die Mannschaftsstärke. Monarchien und Staaten, die von Militärjuntas regiert werden, schicken weniger Teilnehmer als Demokratien oder sozialistische Länder. Und Sportler aus Staaten mit einem Einparteiensystem oder sozialistischen Regimen haben größere Chancen zu gewinnen.

Während Johnson/Ali sich nicht über die Gründe für diese Aussage äußern, liegen diese doch nahe. Olympiamedaillen versprechen Prestigegewinn und zufriedene Einheimische, zudem genießen Staatssportler selbst in ärmeren Ländern traditionell beste Bedingungen

Dennoch bilden die Länder, aus denen Gewinner kommen, einen relativ überschaubaren elitären Zirkel. Von den 241 Nationen, die 1996 an den Sommerspielen teilnahmen, hat mehr als die Hälfte noch nie eine Medaille gewonnen. Auf alle afrikanischen Staaten entfallen nur 0,2 Prozent aller je bei den Sommerspielen verteilten Edelmetalle, bei einer Winterolympiade kam noch nie ein Sieger von diesem Kontinent.

Denn für den Gewinn einer Goldmedaille sind nach den Erkenntnissen von Johnson und Ali verschiedene ökonomische Faktoren wichtig: eine starke Produktivitätsrate etwa, ein hohes Pro-Kopf-Einkommen und eine große Bevölkerungszahl. Je mehr Einwohner ein Land hat, desto größer ist die Chance, einen geeigneten Athleten für eine Sportart zu finden.

Bei Winterolympiaden sieht die Sache allerdings ein wenig anders aus, denn dort spielt für den Gewinn einer Medaille - wenig verwunderlich - das in einem Land herrschende Klima eine wesentliche Rolle. In der Geschichte der Winterspiele hat es noch kein Athlet oder Team aus einem schneelosen Land geschafft, besser als Platz 14 abzuschneiden.

Ausnahmen bestätigen jedoch auch die sportliche Regel, wie Johnson/Ali erklären. Denn trotz ihrer Theorie gebe es immer wieder Gewinner aus Ländern, die eigentlich weder die ökonomischen noch die politischen Voraussetzungen für einen Olympiasieg mitbrächten. »Dann kann man davon ausgehen, dass in dem jeweiligen Staat besondere Voraussetzungen herrschen«, sagen die Wirtschaftler.

So lässt sich wahrscheinlich auch der von ihnen vorhergesagte zweite Platz Russlands im Medaillenspiegel erklären. Russland verfügt schließlich noch über Trainingsstätten und Erfahrungen aus Sowjetzeiten, während seit der Öffnung gegenüber dem Westen zusätzliches Know-How ins Land kam.

Aber ob ihre Voraussage nun eintrifft oder nicht, sei auch gar nicht so wichtig, erklären die beiden Ökonomen am Ende ihrer Arbeit: »Es ist nicht unsere Absicht, Gewinner und Verlierer hervorzuheben oder zu verspotten, sondern die Prozesse deutlich zu machen, die dahinter stehen.«