Renaissance des Kanalschwimmens

Die angeschwemmte Moderne

Nach »Race Across America« auf dem Fahrrad, dem Wüstenmarathon und dem zehnfachen Ultratriathlon kommt auch ein Extremsport zu Wasser wieder in Mode: das Kanalschwimmen.

Im Jahr 1875 versuchte der damals 27jährige englische Kapitän Matthew Webb mehrmals, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Am 12. August scheiterte er noch, am 24. und 25. August gelang es ihm. Er sprang vor Dover ins Meer, bewegte sich in ruhigem Bruststil vorwärts - 20 Züge pro Minute soll er gemacht haben, als er müde wurde, waren es nur noch zwölf - und kämpfte mit den Wellen, denn zu allem Überfluss hatte er den Seegang falsch berechnet.

Webb wollte eigentlich die kürzeste Route zwischen Dover und Calais schwimmen, die 32,31 Kilometer lang ist, tatsächlich aber schwamm er weit über 70 Kilometer. Über 21 Stunden benötigte er im 16 Grad kalten Wasser, zur Stärkung reichte man ihm aus dem Begleitboot lediglich Bier, Brandy und Tee. Auf diesem Boot, einem Schlepper aus Dover, waren sechs Helfer, drei Journalisten sowie ein Zeichner, der exklusive Bilder für die Illustrated London News anfertigte. Webb wurde bald ein Star, zumindest in der britischen Öffentlichkeit, doch sein Abenteuergeist, der von der erfolgreichen Kanaldurchquerung angestachelt worden war, bekam ihm nicht gut. 1883 kam er in den Niagarafällen um, die er schwimmend überqueren wollte.

Dennoch: »Mit dieser Durchquerung des Ärmelkanals und ihrer weltweiten Darstellung in den Zeitungen hatte sich auch auf dem Gebiet des Sports eine neue gesellschaftliche Erscheinung angekündigt: der moderne bürgerliche Sport«, schrieb ein DDR-Historikerkollektiv um Wolfgang Pahncke zu Recht im Buch »Schwimmen in Vergangenheit und Gegenwart« (1979). Der moderne Sport kam, im Falle vom Matthew Webb schwimmend, von England nach Europa.

Dass Webbs Tat dieses historischen Rahmens bedurfte, um überhaupt wahrgenommen zu werden, zeigt sich in dem Umstand, dass Webb gar nicht der erste schwimmende Kanaldurchquerer war. Der war ein italienischer Soldat der napoleonischen Armee, Jean Marie Saletti aus Malesco. Nach der Schlacht bei Waterloo 1815 war er von den Engländern in Kriegsgefangenschaft genommen worden, doch Saletti sprang kurz vor der englischen Küste vom Schiff, das ihn ins Gefangenenlager bringen sollte, einfach ins Meer. Die ganze Nacht schwamm er in Richtung Boulogne, wo ihn kurz vor der Küste ein französisches Fischerboot aufnahm.

Rein formal warf man ihm später vor, den Start- und Zielort nicht korrekt eingehalten zu haben. Er sei schließlich kurz vor der Küste ins Wasser gesprungen und kurz vor der Küste aus dem Wasser gezogen worden. Offiziell gilt Saletti daher bis heute nicht als erster Kanalschwimmer. Die Zeit zur offiziellen Anerkennung sportlicher Höchstleistung war erst später reif.

Im Mai 1875, also wenige Monate vor Matthew Webb, hatte der amerikanische Rettungsschwimmer Paul Boyton einen erfolgreichen Versuch der Kanaldurchquerung unternommen. Allerdings benutzte Boyton bei seiner 23stündigen Schwimmtour einen aufgeblasenen Gummianzug und ein Paddel. Drei Jahre zuvor, 1872, hatte bereits ein Engländer namens J.B. Johnson einen Versuch angekündigt, er gab nach 63 Minuten auf.

Das Kanalschwimmen wurde eines der ersten Weltereignisse des Schwimmsports. Immer wieder wurden Rekorde aufgestellt, immer wieder scheiterten große Schwimmer grandios. Im Jahr 1911 nahm sich der Engländer Thomas Burgess als erster die Strecke doppelt vor: Dover- Calais-Dover in über 23 Stunden. Es war Burgess' 19. Versuch. Auch die Australierin Annette Kellerman versuchte sich in den zehner Jahren an der Kanaldurchquerung, sie scheiterte aber.

Dabei war Kellerman der wahrscheinlich erste Weltstar, den die Sportart hervorbrachte. Sie wurde in den USA eine erfolgreiche, aber nicht unumstrittene Profischwimmerin. Bei einem Schauschwimmen in Boston an der amerikanischen Ostküste wurde Kellerman verhaftet, denn sie trug, nach Ansicht der Obrigkeit, zu freizügige Kleidung: einen einteiligen Schwimmanzug.

Kellerman war eine Überzeugungstäterin. Immer wieder beschwerte sie sich über die damals modernen »grauenhaften, unnötigen, klumpigen Schwimmanzüge, die mehr Tote durch Ertrinken als Muskelkrämpfe zur Folge haben«. Ihre Verhaftung machte sie noch berühmter, und sie erhielt Engagements in der noch jungen Filmindustrie. 1952 wurde ihr Leben mit Esther Williams in der Hauptrolle verfilmt, Titel: »Million Dollar Mermaid«.

Beim Versuch, den Ärmelkanal zu durchschwimmen scheiterte sie drei Mal. Doch das Kanalschwimmen war es, das den nach Kellerman nächsten - und diesmal unumstrittenen - weiblichen Schwimmweltstar hervorbrachte: Gertrude Ederle. Sie wurde 1906 als Tochter eines immigrierten Schwaben in New York geboren, brillierte ohne größere Beachtung als Schwimmerin, obwohl sie als noch nicht 13jährige im August 1919 den Weltrekord über 800 Meter (13:19,0 Minuten) aufstellte. Insgesamt schaffte sie elf Weltrekorde, gewann 1924 bei den Olympischen Spielen in Paris zweimal Bronze und in der Staffel Gold, aber ganz groß raus kam sie erst im Jahr 1926, als sie - seit einem Jahr Profischwimmerin - als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm.

14 Stunden und 31 Minuten benötigte die damals 19jährige, eine für Männer wie für Frauen gültige Weltbestzeit, fast zwei Stunden besser als die alte Bestmarke. Die Begeisterung in New York war nicht geringer als ein Jahr später, als dort Charles Lindberghs erster Ozeanflug gefeiert wurde. Zwei Millionen Menschen bereiteten Ederle eine Konfettiparade. Ihre Kanaldurchquerung war von den Tageszeitungen Daily News und Chicago Tribune finanziert worden, später verdiente die Weltrekordlerin ihr Geld als Berufsschwimmerin in Varieté-Veranstaltungen.

Allerdings erkrankte Ederle bald, sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und arbeitete als Schwimmlehrerin. Schlagzeilen - positive in den USA, negative in Deutschland, wo sie stets als Deutsche wahrgenommen wurde - machte sie während des Zweiten Weltkriegs, als sie in einer US-amerikanischen Rüstungsfabrik arbeitete. Später erkrankte sie, wohl an den Folgen des vielen Salzwassers, heute lebt Gertrude Ederle in einem New Yorker Pflegeheim.

Das Abenteuer Kanalschwimmen wurde 1953 noch einmal filmisch gewürdigt. In dem Spielfilm »Dangerous when wet« (USA) spielte wiederum Esther Williams, die berühmte Kunstschwimmerin und als weiblicher Weltstar die Nachfolgerin von Gertrude Ederle, die Tochter einer Bäuerin, die den Kanal durchschwimmen möchte, damit ihre Farm in Amerika gerettet wird. Allerdings verliebt sich ihre Tochter in einen französischen Champagnerproduzenten, und der Bauernhof wird auch so gerettet.

»Mit Ausnahme der Himalaya-Riesen hat kaum eine irdische Herausforderung die Phantasie der Menschen so bewegt wie die Überwindung des Ärmelkanals«, schreibt der Journalist Rolf Kunkel. Die Faszination hält bis heute an. Jährlich versuchen es etwa 100 Menschen, und die 1927 gegründete Channel Swimming Association überwacht alle Versuche - schon allein wegen eventueller Rettungsmaßnahmen, aber auch um die Rekorde zu registrieren. Ein Fünftel aller Versuche scheitert, das größte und von den meisten unterschätzte Phänomen ist die Kälte. Außerdem ist das Wasser unruhig, der Ärmelkanal ist kein langer, ruhiger Fluss.

Kunkel schreibt in einem Beitrag für Mare: »Ungewöhnliche Tidenverhältnisse (Springflut) verursachen rasante Meeresströmungen. Ebbe und Flut fließen nicht im rechten Winkel, sondern parallel zum Küstenverlauf auf und ab: Die Schwimmer sind gezwungen, eine S-Kurve zu schwimmen und sind am Ende 40, 50 oder 60 Kilometer unterwegs.«

Matthew Webb schwamm über 70 Kilometer weit, die Länge der von Jean Marie Saletti zurückgelegten Strecke ist nicht bekannt.

Von Martin Krauß erscheint demnächst: »Schwimmen. Geschichte - Kultur - Praxis« im Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 16,90 Euro