Wahlboykott in Algerien

Dialog ohne Partner

Die Protestbewegung in der algerischen Kabylei ist mit den Zugeständnissen von Präsident Abdelaziz Bouteflika nicht zufrieden. Deshalb will sie im Mai die Parlamentswahlen boykottieren.

Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika hatte es sich so schön vorgestellt. Am Dienstag voriger Woche fand das seit Monaten angekündigte Treffen zwischen dem Staatschef und den gemäßigten Vertretern der Kabylei, der aufrührerischen Berber-Region nordöstlich der Hauptstadt Algier, statt. Anschließend verkündete Bouteflika in einer Fernsehansprache: »Ich habe in völliger Freiheit und mit absoluter Überzeugung beschlossen, Tamazight als Landessprache in die Verfassung aufzunehmen.«

Doch die formale Anerkennung der Berbersprache Tamazight genügte der Protestbewegung nicht. Kaum war die Übertragung der Rede beendet, begannen in mehreren kabylischen Städten Krawalle. Allein in Tizi-Ouzou, einer der beiden Regionalhauptstädte, waren bis zum Sonntag rund 100 Verletzte zu verzeichnen. Die bedrängten Gendarmen und Bereitschaftspolizisten feuerten Tränengasgranaten aus wenigen Zentimetern Entfernung auf die militanten jugendlichen Demonstranten ab.

Auch eine von der populistischen Regionalpartei FFS (Front der Sozialistischen Kräfte) organisierte Demonstration in Algier wurde nicht geduldet. Der FFS, dessen Strategie auf einen Kompromiss zwischen Militärs, Liberalen und Islamisten unter Einschluss der kabylischen Eliten abzielt, hatte seine Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit vage gehalten. Um sich als wichtigste Oppositionskraft profilieren zu können, wollte man klarstellen, dass die Probleme der Kabylei nicht allein sprachlicher Natur sind. Doch nur 50 bis 100 Demonstranten hatten es geschafft, überhaupt auf den Platz des 1. Mai in Algier vorzudringen. Ein großes Polizeiaufgebot verhinderte den Marsch, auch Journalisten wurden verhaftet.

Die harte Reaktion dürfte die Protestbewegung in ihrem Entschluss bestärken, die für den 30. Mai geplanten Parlamentswahlen zu boykottieren. Die sozialen Koordinatoren der Städte und der Aarouch, einer im Laufe der Unruhen wiederbelebten und zugleich durch Aufbrechen der früheren Altershierarchie modernisierten ehemaligen Stammesstruktur, hatten bereits im Dezember einen Wahlboykott beschlossen. Anfang März weitete eine überregionale Tagung in Bechloul den Beschluss aus, dort wurde eine aktive Behinderung der Wahlen in der Region anvisiert.

Justizminister Ahmed Ouyahia erklärte daraufhin, notfalls werde man eben ohne die Kabylei wählen. Danach waren in Tizi-Ouzou erneut heftige Unruhen aufgeflammt. Auch in anderen Städten hatten Aktivisten Wahlurnen sowie Plakate des Innenministeriums in einzelnen Rathäusern beschlagnahmt und später öffentlich verbrannt.

Nach dem Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl im April 1999 glaubt kaum jemand, dass die Parlamentswahlen am Charakter des oligarchischen Regimes etwas ändern können. Die Proteste der letzten beiden Wochen richten sich daher auch gegen die rund 250 Vertreter des gemäßigten Flügels der Aarouch und der Bürgerbewegung aus der Kabylei, die sich mit Bouteflika trafen.

Zudem blieben die Zugeständnisse des Präsidenten dürftig. Von den wichtigsten Forderungen der Plattform von El-Kseur im Juni 2001 nahm Bouteflika zunächst symbolträchtig jene nach Anerkennung der Berbersprache Tamazight auf. Diese als Landessprache anzuerkennen, bedeutet allerdings nur das Eingeständnis der Tatsache, dass die Berbersprache fester Bestandteil des kabylischen Alltags ist. Die Protestbewegung hatte die offizielle Anerkennung auch als Amtssprache gefordert.

Die zweite zentrale Forderung, die nach einem Abzug der Gendarmerie, lehnte Bouteflika ab. Die algerische Gendarmerie ist eine Spezialeinheit, die direkt dem Verteidigungsministerium untersteht und in dieser Form vom ehemaligen Kolonialstaat übernommen wurde. Allenfalls will Bouteflika sie aus den neuralgischen städtischen Zentren abziehen.

Immerhin musste Bouteflika Übergriffe der von ihm als »Institution der Republik« bezeichneten Gendarmerie eingestehen, führte sie aber auf die »Fehler« Einzelner zurück und verwies darauf, dass Strafverfahren gegen 24 Gendarmen eingeleitet wurden. Angesichts mindestens 107 Toter und etwa 6 000 Verletzter seit Beginn der Protestbewegung im April 2001 gelten diese Zugeständnisse in der Kabylei als absolut unzureichend.

Die sozioökonomischen Forderungen, etwa nach einem »Notstandsplan« für die Kabylei, in der die Arbeitslosenrate mit etwa 37 Prozent noch acht Prozent höher liegt als im Landesdurchschnitt, lehnte Bouteflika ab. Lediglich die während der Unruhen beschädigten öffentlichen Gebäude sollen repariert werden. Ferner sagte er zu, der im Frühjahr 2001 aufgelegte nationale Entwicklungsplan werde auch der Kabylei zugute kommen. Der Plan basiert auf den damals gestiegenen Erdölpreisen, die dem Regime überraschend höhere Einnahmen bescherten. Seitdem ist der Ölpreis jedoch unter den im Haushaltsgesetz vorgesehenen Stand abgesunken, bereits der Staatshaushalt 2001 beruhte auf überhöhten Einnahmeerwartungen.

Die Lage in der Kabylei ist derart zugespitzt, dass auch die beiden großen bürgerlichen Regionalparteien, der FFS und der RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie), die Wahlen am 30. Mai voraussichtlich boykottieren werden. Andernfalls droht ihnen die politische Isolation, wenn der Aufruf zur Wahlverweigerung weitgehend befolgt wird. Der RCD, dessen Führung eine eher wirtschaftsliberale und modernistische Politik vertritt, beschloss bereits am Donnerstag, den Wahlen fernzubleiben, da diese keinerlei Aussicht auf eine Demokratisierung des politischen Systems böten. Von 1999 bis 2001 hatte der RCD der Regierungskoalition in Algier angehört. Der FFS will diesen Donnerstag über einen Wahlboykott entscheiden.

Zu politischen und ökonomischen Zugeständnissen nicht bereit, setzt die herrschende Oligarchie weiter auf eine repressive Politik ohne längerfristige Zukunftsperpektive. Auch außerhalb der Kabylei muss sich die Regierung mit Protesten gegen die soziale Misere auseinandersetzen. Immer wieder gibt es sporadisch aufflackernde Unruhen wegen ungestillter unmittelbarer Bedürfnisse - wie Trinkwasser, Wohnraum oder Jobs.

Die vergangenen Wochen waren geprägt von Streiks vor allem in den öffentlichen Diensten. So hatten gut 90 Prozent der Lehrer des Landes gestreikt, sie forderten angesichts ihrer rapide fortschreitenden Verarmung eine Lohnerhöhung um 100 Prozent.

Derzeit laufen die Verhandlungen zwischen ihrer Gewerkschaft und dem Bildungsministerium, deren Resultate in der kommenden Woche bekannt gegeben werden sollen. Zuvor wurde an den Hochschulen gestreikt, danach in den Krankenhäusern, und ein Ausstand der Eisenbahner war in der letzten Februarwoche nur durch rasche Zugeständnisse der staatlichen Bahngesellschaft verhindert worden. Noch aber kann die Regierung darauf bauen, dass die Entwicklung in der Kabylei unabhängig von den Ereignissen in anderen Landesteilen verläuft.