»A Beautiful Mind« und »Das weiße Rauschen«

Gute Stimmen, böse Stimmen

Alle verstehen und lieben das wahnsinnige Genie aus »A Beautiful Mind«. Die schizophrene Kindermörderin Andrea Yates aus Texas bleibt dagegen unverstanden.

Lukas ist gerade nach Köln gezogen, in eine Wohngemeinschaft zu seiner Schwester. Dass ihn der Versuch, sich zu immatrikulieren, völlig überfordert, weil die Universität so groß ist und er die Orientierung verliert - das macht ihn geradezu sympathisch: Wer hat nicht schon Ähnliches auf Ämtern oder Unis erlebt? Als Lukas aber mit seiner Angebeteten ins Kino gehen will, um »Taxi Driver« zu sehen, der Film aber gar nicht läuft und Lukas die Kartenverkäuferin wüst beschimpft, da geht die Angebetete weg und Lukas wirkt nicht mehr sympathisch, sondern ziemlich merkwürdig. Aber auch das kann passieren, schließlich ist dies sein erstes Date in der großen Stadt gewesen, er hatte sich im Kinoprogramm verlesen. Ein bisschen sehr sensibel, der Junge. Später dann wird es richtig unheimlich, denn Lukas hört Stimmen, er greift seine Mitbewohner und sogar seine Schwester an, die vollkommen hilflos vor dieser Person stehen, die nicht mehr sie selbst zu sein scheint. Und Lukas kommt in die Psychiatrie.

John Nash ist ein hoch begabter Mathematiker, 1994 erhielt er den Nobelpreis. Er erzählt von Dingen und Ereignissen, von denen sich später herausstellt, dass sie nur in seinem Kopf existieren. Aber er bleibt der nette hoch begabte Mann, seine Ehefrau steht ihm zur Seite. Zuerst ist auch dies sehr befremdlich, aber dann wird alles gut, als endlich herauskommt, dass Nash schizophren ist.

Im Gegensatz zu Lukas und John Nash ist Andrea Yates (noch) keine Filmfigur. Sie wurde Anfang März von den Geschworenen in Houston, Texas, des Mordes für schuldig befunden, weil sie ihre fünf Kinder in der Badewanne ertränkt hat. Yates konnte der Verhandlung nur folgen, weil sie vollgepumpt wurde mit Haldol, jenem paralysierenden Mittel, das einer breiten Öffentlichkeit durch den Film »Einer flog übers Kuckucksnest« bekannt wurde. Haldol macht aus den Menschen Zombies. Die Geschworenen im Prozess in Texas befanden Yates für schuldfähig, weil sie davon ausgingen, dass die Frau zwischen richtig und falsch unterscheiden konnte. Vor Gericht hatte sie ausgesagt, Stimmen hätten ihr befohlen, die Kinder umzubringen, damit diese in den Himmel kommen. Nach der Tat rief sie selbst die Polizei an und ließ sich widerstandslos festnehmen. Nun droht ihr die Todesstrafe.

Drei Geschichten, die von Schizophrenie erzählen. Lange nicht mehr wurde der gespaltenen Seele eine solche Aufmerksamkeit zuteil wie in den vergangenen Monaten. »A beautiful Mind«, die Geschichte des John Nash, wurde am Wochenende mit vier Oscars prämiert. Russel Crowe mimt den Schizophrenen in völliger Überschätzung seiner schauspielerischen Fähigkeiten als nervliches Wrack mit unfreiwillig komischen Zuckungen. Dramaturgisch lebt der Film davon, dass erst nach und nach deutlich wird, dass mit dem Genie etwas nicht stimmt, dass es einige Personen aus seiner Welt real gar nicht gibt und dass das Genie auch nicht für den Geheimdienst arbeitet. Der deutsche Verleih hängte dem englischen Titel noch die Begriffe »Genie und Wahnsinn« an, und damit schien hinreichend beschrieben, worum es in der Geschichte geht.

Ron Howards Film will mit dem Stigma der Schizophrenie aufräumen und erliegt ihm umso totaler, als er die dunklen Seiten des Phänomens außen vor lässt. Psychopharmaka kommen nur verschämt am Rande vor, obwohl sie in Nashs realer Biografie eine durchaus größere Rolle spielten, ebenso wie Therapieversuche. Oscar-Konkurrenten aus den USA werfen dem Film vor, er verschweige die für das Publikum weniger sympathischen biografischen Details, wie Nashs antisemitische Wahnvorstellungen oder seine homosexuellen Episoden. Nash und Crowe konterten, die Verwirrung habe sich eben zu einer ganz bestimmten Zeit geäußert, eigentlich aber sei er weder ein Antisemit noch homosexuell. Um Letzteres zu bestätigen, wurde eigens Nashs Frau vor die Kameras gestellt.

Lukas ist, dargestellt von Daniel Brühl, der Protagonist von »Das weiße Rauschen«, dem sehr erfolgreichen und hoch gelobten Film von Hans Weingartner. Um die Schizophrenie darstellbar zu machen, muss auch dieser Film die Zuschauer überlisten und lässt sie wahrnehmen, was für den Außenstehenden nicht wahrnehmbar ist. Man hört also Lukas' Stimmen, und erst im Nachhinein realisiert man, dass diese Dialoge sich von einem anfänglichen Rauschen sukzessive zu jenem Stimmengewirr gesteigert haben, das den Protagonisten im wahrsten Sinne des Wortes in den Wahnsinn treibt.

Weingartners Abschlussfilm an der Kölner Medien-Hochschule fragt nach der Innenperspektive eines Menschen im Ausnahmezustand. Während das Vorhaben, die Geschichte einer Schizophrenie zu erzählen, in »A Beautiful Mind« scheitert, weil die Regie sich weigert, den Wahnsinn zu ästhetisieren, belegt »Das weiße Rauschen« gerade, dass die Ästhetik das angemessene Mittel der Annäherung ist. In »Das weiße Rauschen« sind die Stimmen kein didaktischer Trick, sondern ästhetisches Mittel, zumal sie eben nicht zur Identifikation einladen, sondern die Hilflosigkeit des Protagonisten in der von Brühl überzeugend dargestellten Gleichzeitigkeit von panischer Angst und aggressiver Enthemmung umso deutlicher zutage treten lassen. Die Hilflosigkeit seiner Umgebung ist ebenso überzeugend dargestellt, wenn die Schwester sich von ihrem Bruder schließlich bedroht fühlt und er, nach einem Sprung aus dem Fenster, in die Psychiatrie kommt.

Als Lukas dort die Haldol-Kur verabreicht wird, möchte sie ihn rausholen, aber er will nicht mitkommen: Er fühlt sich sicherer in der Psychiatrie als in der für ihn unübersichtlichen Welt, die er ohnehin von sich abgespalten hat. Nach der Psychiatrie ist Lukas ein Anderer, still, in sich zurückgezogen, er nimmt nun Medikamente, die die Stimmen dämpfen. Lukas hört auf, die Medikamente zu nehmen, die Stimmen werden wieder lauter ... Nun könnte die Odyssee des Drehtürpatienten beginnen, doch bevor seine Schwester ihn ein weiteres Mal in die Psychiatrie bringt, stürzt Lukas sich von einer Rheinbrücke. Auch das wäre ein überzeugendes und nicht allzu seltenes Ende, doch Lukas überlebt und wird von Hippies geborgen, die ihn nach Spanien mitnehmen. Die Stimmen begleiten Lukas die ganze Reise über, kommentieren, was er unternimmt oder unterlässt, bewerten das Verhalten der Reisenden oder streiten sich untereinander. Erneut kapselt Lukas sich ab und sitzt am Ende des Films allein an einem spanischen Strand.

Die Ästhetisierung des Leidenszustands gerät in »Das weiße Rauschen« durchaus zeitgeistkonform, Daniel Brühl agiert zu Anfang wie River Phoenix in »My Private Idaho«, der Drogenkonsum und die Musik sind hip, die Handkamera auch. Doch die Dramaturgie zersprengt die trendkonformen Bilder zugleich; es gibt Lukas' Wahrnehmung und die der anderen, die sich immer weiter voneinander entfernen. So wird die Abspaltung der Außenwelt, die Lukas vollzieht, weil seine Innenwelt schon anstrengend genug ist, zur Spaltung der Wahrnehmungswelt der Protagonisten. Die Spaltung des Individuums wird zu einer zwischen den Individuen. Genau dieser Aspekt, der für die Wahrnehmung der Schizophrenie maßgebend ist und der auf das Gesellschaftliche verweist, als dessen ganz Anderes die Schizophrenie zu gelten hat, fehlt in »A beautiful Mind« völlig.

Dabei gibt es auch eine Gemeinsamkeit beider Filme: den Verweis auf die große Bedeutung, die stabile soziale Beziehungen auf die Verlaufsform der Schizophrenie nehmen können. Nur gerät er bei Howard zum reinen Family-Values-Kitsch und konstruiert für Nash einen starken Willen zur Heilung. Bei Weingartner endet der Film mit der Darstellung erneuter Überforderung, aber am Ende hört man Lukas' eigene Stimme, die vorsichtig den Beginn einer Suche ankündigt, die jenseits der Diagnose Schizophrenie und der Frage der Krankheitseinsicht liegt. Der entscheidende Unterschied jedoch bleibt, dass Lukas eben durchaus leidet, tatsächlich verzweifelt, eben kein Genie, sondern nur Wahnsinn ist, während der Film-Nash irgendwie immer er selbst bleibt.

Die Gutachter im Prozess gegen Andrea Yates sagten aus, sie sei nach der Geburt ihres jüngsten Kindes an einer Wochenbettdepression erkrankt, aus der sich die Schizophrenie entwickelt habe. Aber schon zuvor hatte sie mehrmals versucht, sich umzubringen. Sie kam aus einer Vorzeigefamilie: ein schmuckes Haus, genügend Geld, reicher Kindersegen. Und eine offensichtlich völlig überforderte Mutter, die der normativen Kraft jener Werte, die in »A Beautiful Mind« vertreten werden, nicht standhielt.

Angenommen, die Geschworenen, die Andrea Yates für schuldig befunden haben, hätten diesen Film gesehen und daraus geschlussfolgert, so sei Schizophrenie: Dann hätten sie folgerichtig entschieden. Aber was Schizophrenie tatsächlich ist, wissen selbst die Experten nicht. In diesem Punkt ist »Das weiße Rauschen« konsequent, weil der Film subjektv bleibt, ohne den Eindruck von Authentizität zu erwecken. Dieser Film hätte den Geschworenen bei der Urteilsfindung in keiner Weise geholfen.

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»A Beautiful Mind«, USA 2001, Regie: Ron Howard »Das weiße Rauschen«, BRD 2001, Regie: Hans Weingartner