Antisemitismus in Frankreich

Universelles Bewusstsein

Bislang galt Frankreich als das europäische Land, welches den Antisemitismus gesellschaftlich geächtet hatte. Erinnert sei an die machtvolle Demonstration Hunderttausender mit dem Präsidenten François Mitterand an der Spitze, als Antisemiten im Sommer 1989 den jüdischen Friedhof von Carpentras verwüstet hatten.

Aber auch in der Geschichte scheint Frankreich, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten mit Ausnahme der Niederlande, eine republikanische Tradition aufzuweisen, die in Opposition zum Antisemitismus steht. Die Dreifus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts wird bis heute als gesellschaftliche Katharsis beschworen, in welcher der Widerspruch zwischen Proklamation und Wirklichkeit der französischen Judenemanzipation offenbar geworden sei.

Und nun dies: In Marseille wird eine Synagoge niedergebrannt, in Lyon eine weitere angegriffen, eine jüdische Schule nahe Paris ebenfalls durch Flammen verwüstet, ein Mann, der wegen seiner Kopfbedeckung als Jude erkenntlich war, und seine schwangere Ehefrau werden zusammengeschlagen. Der erst zwei Wochen zuvor erschienene Bericht über antisemitische Gewalttaten registriert 405 Brandanschläge, Schmierereien, Todesdrohungen, Tätlichkeiten zwischen dem 1. September 2000 und dem 31. Januar 2002.

Die Täter, so die Autoren von SOS Racisme, seien in erster Linie maghrebinische Jugendliche, »die sich mit der Sache der Palästinenser identifizieren«. Darin unterscheiden sie sich allerdings überhaupt nicht vom französischen Mainstream. »Die höchsten Autoritäten Frankreichs behandeln Arafat wie einen Widerstandskämpfer, wie einen de Gaulle, für den man andächtig Kerzen anzündet«, sagt der Präsident der jüdischen Dachorganisation CRIF, Roger Cukierman. Von links bis rechts werden, sofern man die Anschläge überhaupt verurteilt, die Armut, die Perspektivlosigkeit und die Verzweiflung als Ursachen erkannt, damit man den sich politisch wähnenden Antizionismus umso unverhohlener äußern kann: eine Arbeitsteilung, die den Pogromisten gefallen wird.

Während die Europäische Union noch überlegt, sind die Franzosen schon vor Ort, in Gestalt des Anti-McDonald's-Bauern José Bové und anderer Globalisierungsgegner, die zur »Verteidigung des palästinensischen Volks« und seines Führers in die Autonomiegebiete einrückten. Die französischen »Friedensaktivisten« stellen die übergroße Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Hilfstruppen der Intifada. Sie sehen sich als Vertreter eines »universellen Bewusstseins«, gegen das Israel, so ein Sprecher des französischen Außenministeriums, mit der Belagerung der von bewaffneten Geiselnehmern besetzten Geburtskirche in Bethlehem verstoße.

Gemeint ist jenes universelle Bewusstsein, wie es sich auf der UN-Konferenz gegen den Rassismus in Durban manifestierte, wo die EU - mit Deutschland und Frankreich vorneweg - es zuließ, dass die Veranstaltung zu einem antisemitischen Tribunal gegen Israel wurde. Jenes Bewusstsein, das den Antizionismus als »ehrbaren Antisemitismus« (Jean Améry) legitimiert und das unter Universalismus die Gleichmacherei und die Vernichtung des Differenten versteht, kurz: der Antisemitismus selbst.

Gerade deshalb ist der umstrittene Vergleich mit den dreißiger Jahren nicht so leicht vom Tisch zu wischen. Wenn Vertreter des CRIF jetzt von »Kristallnacht« sprechen, so meinen sie damit eben nicht nur brennende Synagogen und andere Übergriffe, sondern vor allem den schauerlichen Konsens, der sich heute, anders als vor 13 Jahren, im Verständnis fürs Pogrom äußert, und die Staatsgewalt, die sich scheut, gegen die Täter vorzugehen. Der umstrittene Vergleich, in Frankreich ist er empirisch belegbar.