Präsidentschaftswahlen

Die braune Welle

Der Rechtsextremist Le Pen schlägt bei den französischen Präsidentschaftswahlen überraschend den Kandidaten der linken Regierungskoalition.

Die rosa Welle ist vorbei. Kaum vier Jahre ist es her, dass die überwiegende Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten sozialdemokratisch geführte Regierungen oder Koalitionen mit sozialistischer Beteiligung aufwiesen. Spätestens seit dem Wahlsieg von Silvio Berlusconi vor einem Jahr hat sich das Blatt gewendet. Auch Frankreich, wo im Juni 1997 eine Koalition aus Sozialisten, Grünen, Parteikommunisten und Linksnationalisten antrat, hat nun scheinbar eine deutliche Wende nach rechts vollzogen.

Am vergangenen Sonntag, nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen, blieben noch der bisherige Amtsinhaber Jacques Chirac und sein rechtsextremer Herausforderer Jean-Marie Le Pen übrig. Als bestplatzierte Kandidaten mit 19,7 bzw. 17 Prozent der abgegebenen Stimmen werden sie am 5. Mai in einer Stichwahl antreten.

Der Wahlerfolg von Chirac ist dabei nicht auf einen markanten Stimmenzuwachs zurückzuführen. Keiner der 16 Bewerber um das französische Präsidentenamt hat die Zwanzigprozentmarke erreicht, und Chiracs Ergebnis liegt unterhalb seiner Resultate im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen von 1988 (19,9 Prozent) und 1995 (20,8 Prozent). Hingegen hat die extreme Rechte deutlich hinzugewonnen. Denn zu den 17 Prozent von Le Pen muss man noch die 2,4 Prozent für seinen geschassten ehemaligen Chefideologen Bruno Mégret hinzuzählen. Damit liegt die extreme Rechte fast gleichauf mit dem konservativen Kandidaten.

Die Stimmengewinne von Le Pen lassen sich unter anderem damit erklären, dass bei früheren Wahlen die nationalkonservative Rechte eine Art Puffer zwischen den Konservativ-Liberalen und den Neofaschisten bildete. Bei der Präsidentschaftswahl 1995 erhielt der rechtskatholische und EU-feindliche Graf Philippe de ViIliers 4,7 Prozent. Und bei den Wahlen zum Europaparlament 1999 erzielte der nationalpopulistische ehemalige Innenminister Charles Pasqua 13 Prozent. Beide Politiker sind in diesem Jahr nicht angetreten.

Allerdings kam nur ein Teil der nationalkonservativen Stimmen dem Altfaschisten Le Pen zugute, da in dessen Wählerschaft die sozial schlechter gestellten Schichten deutlich überrepräsentiert sind. Das trifft auf die Anhänger von Pasqua und de Villiers nicht in diesem Maße zu. Das Votum für die rechtsextremen Kandidaten nährt sich vor allem aus sozialer Unzufriedenheit, kombiniert mit einem tief sitzenden Rassismus.

Hinzu kommt, dass der Wahlkampf von einer Law and Order-Rhetorik geprägt war, die alle anderen Aspekte überragte. Dieses Thema erklärt vermutlich auch am besten den derzeitigen Rückenwind für die extreme Rechte. Denn angesichts der sozialen Situation in den Trabantenstädten wurde fast täglich über die »Unsicherheit« in den Banlieues berichtet und die Immigrantenjugend als »Faktor der Kriminalität« dämonisiert. Die ideologischen Folgen der Attentate des 11. September haben dieses Klima noch verschlechtert. Le Pen brauchte sich daher gar nicht mehr sonderlich anzustrengen. Alle Kandidaten der etablierten Parteien hatten die »Innere Sicherheit« in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt.

Die großen Verlierer der Wahl sind die regierenden Linksparteien. Für die französische KP, deren Kandidat Robert Hue nur noch 3,4 Prozent erhielt, kommt das Wahlergebnis nahezu einem Todesurteil gleich. Da die KP die Fünfprozentmarke verfehlt hat, bleibt ihr das Recht auf die volle Erstattung ihrer Wahlkampfkosten vorenthalten. Nun wird sie enorme Probleme haben, ihren überdimensionierten Parteiapparat zu finanzieren. Noch nie seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat die Partei so schlecht abgeschnitten. Sie bezahlt damit den Preis für die Bilanz ihrer Regierungsbeteiligung. Denn trotz ihrer Präsenz im Kabinett und gelegentlicher symbolischer Proteste der KP-Spitze hat die Regierung Jospin faktisch eine neoliberale Politik betrieben.

Die Rechnung dafür bezahlt natürlich auch der Regierungschef Lionel Jospin, der mit nur 16,1 Prozent hinter Le Pen zurückfiel und sich nun aus der Politik zurückziehen will. Einige Zeitungen hatten in der vergangenen Woche vor einer Stichwahl zwischen Le Pen und Chirac gewarnt und für Jospin als »kleineres Übel« mobilisiert. Es hat nichts genützt. Eine Regierung, die in den ersten vier Jahren ihrer Amtszeit mehr privatisiert hat als ihre konservativen Vorgänger und die für eine neoliberale Arbeitsmarktpolitik eintrat, konnte nicht begeistern. Jospin hat vor allem bei seinen eigenen Anhängern verloren. Viele gaben ihre Stimme erst gar ab nicht, der Anteil der Nichtwähler lag mit 28 Prozent um ein Viertel höher als bei der letzten Präsidentschaftswahl.

Im Gegensatz zur Regierungskoalition war die radikale Linke erfolgreich. Die langjährige trotzkistische Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller von Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) erhielt mit 5,8 Prozent zwar nur ein knappes halbes Prozent mehr als vor vier Jahren. Doch diesmal konnten auch andere linksradikale Parteien zulegen.

Die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire) war in diesem Jahr mit einem jungen und unkonventionellen Präsidentschaftskandidaten vertreten. Der 28jährige Briefträger Olivier Besancenot profilierte sich als Kandidat der Protestgeneration von Seattle und Genua, bezog sich aber auch eindeutig auf die Traditionen des revolutionären Marxismus. Er erzielte mit 4,3 Prozent ein unerwartetes Ergebnis. Ein weiterer linksradikaler Kandidat, Daniel Glückstein von der autoritären Politsekte des Parti des travailleurs (PT, Partei der Arbeiter), erhielt knapp 0,5 Prozent. Insgesamt erreichte die radikale Linke elf Prozent der Stimmen.

Bereits eine Woche vor der Wahl forderte Besancenot die prominentere Mitkandidatin Arlette Laguiller zur gemeinsamen Gründung einer »nicht sektiererischen, aber klar antikapitalistischen«, pluralen Partei der radikalen Linken auf. Diese schlug das Angebot zunächst aus, erklärte aber am Tag darauf, im Fall eines ausreichenden Wahlergebnisses selbst die Initiative ergreifen zu wollen. Das hat sie allerdings auch schon bei der letzten Präsidentschaftswahl 1995 angekündigt. Dass Laguiller in der radikalen Linken nun nicht mehr allein steht und die Krise der KP sich verschärft hat, könnte einer neuen und pluralen linksradikalen Organisation neuen Schwung geben.

Für die radikale Linke stellt sich jetzt die Frage, wie sie sich bei der Stichwahl verhalten soll, in einem völlig neuen Licht. Bisher hatten LO und LCR angekündigt, nicht zur Wahl Jospins gegen Chirac aufzurufen, sondern ihren Anhängern die Entscheidung zu überlassen. Der Erfolg von Le Pen hat die Situation nun drastisch verändert.

Am Wahlabend erklärte Arlette Laguiller, den sozialen Widerstand gegen den wahrscheinlichen Sieger der Stichwahl - Jacques Chirac - organisieren zu wollen. Ein Wahlaufruf zu dessen Gunsten komme für ihre Organisation nicht in Frage. Über Le Pen verlor sie jedoch kein Wort. Anders war die Reaktion der LCR. Ihre Anhänger schlossen sich noch am Wahlabend den Spontandemonstrationen gegen Le Pen in Paris an, zu der das Antifa-Netzwerk RLF aufgerufen hatte. Auch in zahlreichen anderen französischen Städten kam es zu spontanen Protestkundgebungen.

In Paris marschierten mindestens 15 000 Menschen vom Odéon-Theater über die Place de la République bis zur Bastille. In der Menge fanden sich Jospin-Poster enttäuschter Jungsozialisten ebenso die wie schwarz-roten Fahnen der Anarcho-Syndikalisten, das Rot der LCR und die Sonnenblumen der Grünen.