»Die kurze Geschichte der deutschen Literatur«

Schlaffers Kulturkampf

Die Bitte der Redaktion, mich mit Schlaffer abzugeben, kam mir ungelegen, denn gerade habe ich das Vergnügen mit einem Werk der Madame de La Fayette. Doch war mir in den des Professors Essay vorausgeeilten Rezensionen angenehm aufgefallen, er kürze den Kanon der deutschen Literatur, der bei manchen seiner Kollegen weit über 100 Titel umfasst, um gut Vierfünftel. Also legte ich Madame für einen Moment aus der Hand. Heinz Schlaffers Büchlein trägt den Titel »Die kurze Geschichte der deutschen Literatur«, mit bestimmtem Artikel und Betonung auf kurz und deutsch. Vor Lessing und nach Goethe, sagt der Professor, sei nicht viel zu holen.

Vor dem Franzosenfresser Lessing gebe es keine wahrhaft deutsche Literatur, denn im höfischen Mittelalter und im rhetorischen Barock sei »nichts von den leitenden Ideen zu spüren, denen sich die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts verschrieben hatte, nichts von Natur, Leben, Wahrheit, Ernst, Volk, Genie, Ausdruck«, und weil sie dem deutschen Gemüt deshalb nicht konvenierte, sei bis 1750 für die »deutsche Literatur keine größere Leserschaft zu gewinnen« gewesen.

Auf Lessing folgt der Kanon, der Reigen der noch heute Gelesenen, Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin, und ihren Taufscheinen liest Schlaffer ab, dass »sämtliche Schriftsteller, die im 18. Jahrhundert die deutsche Literatur begründen, protestantischer Herkunft sind«, ein erklecklicher Teil sogar »entlaufene Pfarrersöhne«. Obwohl die meisten von ihnen nicht fromm sind, sei der Einfluss des Protestantismus, insbesondere des Pietismus, unverkennbar und erweise sich an den Topoi und Leitideen ihrer Werke, als da seien: Schwärmertum, Volkstümlichkeit, Natürlichkeit, Verklärung des Schlichten, Erbauung, Seele, Aufrichtigkeit, Nähe, ja Enge, Kauzigkeit, Innerlichkeit, Tiefe, Andacht und das Wandern. Das ist alles richtig beobachtet. Ich kenne freilich auch Leser und Autoren, die in der Literatur ganz anderes suchen: Kälte, Aristokratie, Kunst, das Sublime, Kitzel, Körper, Intelligenz, Weite, ja große Weite, Weltläufigkeit, Offenheit, Schönheit, Konversation und das Tanzen. Das sind dann wohl keine echten Deutschen, sondern »marginale Existenzen«.

Diese kommen zum ersten Mal während der Industrialisierung zum Zuge, als die »realitätstüchtige Intelligenz«, natürlich die protestantische, in Wissenschaft und Wirtschaft macht. »Die unproduktive Produktion von Kunst, Musik und Literatur geht daher an marginale Existenzen über, (in Deutschland) an die süddeutschen Katholiken und österreichischen Juden«. Ein Dekadenzphänomen, das nur dadurch gemildert werde, dass viele marginale Existenzen sich noch immer an protestantischen Idealen orientierten, etwa Kafka an Kleist. Ist aber in einem Werk partout keine »protestantische Spur« mehr zu erkennen, witzelt der Professor über die »stete Bedrohung«, »Paul Celans Gedichte deuten zu müssen«. Noch heute überkommt ob dieser Gedichte jeden echten Deutschen ein Lachreiz.

Und damit ist der schlaffe Spuk auch schon vorüber, denn nicht nur die deutsche Literatur, sondern auch das Buch über sie ist so dünn, dass dem »Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt«. Ich wende mich wieder Madame zu.

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. C. Hanser, München, Wien 2002, 158 S., 12,90 Euro