Chirac gewinnt die Präsidentschaftswahlen

Wählen mit Wäscheklammern

Bei den Massendemonstrationen gegen Le Pen wurde die Gefahr langfristiger Bündnisse der konservativen mit der extremen Rechten unterschätzt.

Er hat mit Sicherheit für Jean-Marie Le Pen gestimmt: Beim Aufmarsch des rechtsextremen Front National (FN) am 1. Mai lief ein etwa 50jähriger Mann mit, der wohl zeigen wollte, wie er sich einen »echten Franzosen« vorstellt. Mit weingeröteter Nase, die Baskenmütze über die Stirn gezogen, stemmte er ein Baguette vor sich in die Luft: Die Grundlage seines Stolzes.

»Stolz, Franzose zu sein« war eine der wenigen Parolen, die die Organisatoren der jährlichen Parade zu Ehren der »Nationalheiligen« Jeanne d'Arc zugelassen hatten. Andere wurden wegen der Befürchtung untersagt, sie könnten den Medien neue Angriffsflächen für Berichte über offen faschistische Slogans oder Publikationen bieten.

Das Meer blau-weiß-roter Fahnen allerdings täuschte darüber hinweg, dass die extreme Rechte nach wie vor ein Problem hat, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. Der FN ist derzeit überwiegend eine Wahlformation und keine faschistische Bewegungspartei. Hochrangige Parteikader hatten das zwischen 1992 und 1998 zu ändern versucht und parteinahe Gewerkschaften, Mietervereinigungen und andere Vorfeldorganisationen gegründet.

Doch im Zuge der innerparteilichen Krise zum Jahreswechsel 1998/99 warf Le Pen genau diese Kader hinaus, um die alleinige Kontrolle über die Partei zurück zu erlangen. Seitdem sind die Aktivitäten des FN weitgehend auf Wahlkämpfe reduziert.

Nach den jüngsten Erfolgen Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen, die ihm im zweiten Durchgang knapp 18 Prozent einbrachten, könnte sich dies wieder ändern. Zumal sich der FN und der von diesem abgespaltene Mouvement National Républicain (MNR) wieder anzunähern scheinen. So beteiligten sich MNR-Aktivisten auch an der Mai-Demonstration ihrer ehemaligen Partei.

Insgesamt konnte der FN über 10 000 Teilnehmer zu seiner Parade mobilisieren. Das sind zwar dreimal soviel wie im Vorjahr, aber viel weniger als die 100 000, die Le Pen angekündigt hatte.

Einige Stunden später zogen deutlich mehr Gegner des Rechtsextremisten über die Pariser Boulevards. Eine Übersicht über die Menge war unmöglich. Aus Platzmangel breiteten sich die Demonstranten entlang dreier verschiedener Routen gleichzeitig von der Place de la République in Richtung Place de la Nation aus. Waren es nun 400 000 Demonstranten, wie es die Polizei angab? Oder 900 000, wie die Veranstalter meinten? Die Frage ist müßig.

In anderen französischen Städten demonstrierten am selben Tag mindestens 800 000 weitere Personen. Bereits in der Woche zuvor gab es täglich Demonstrationen gegen Le Pen - vor allem von Schülern und Studenten.

Manche Teilnehmer rückten die Ansichten des rechtsextremen Politikers über eine »natürliche Ungleichheit« zwischen den Menschen ins Zentrum ihrer Kritik. Eine Demoparole lautete: »Nicht die Schwarzen, nicht die Araber, nicht die Juden sind zu viel im Land - Le Pen und seine Faschisten sind zu viel.«

Ein weiterer Aspekt war die Kritik an den Medien, insbesondere am Fernsehen: »Schmeißt den Fernseher aus dem Fenster, fangt an zu denken!« Oder auch: »Schaltet die Flimmerkiste aus und hört auf, jeden Tag um 20 Uhr Angst zu haben!« Tatsächlich hat vor allem der Fernsehkanal TF1, den Jacques Chirac noch als Premierminister privatisierte, eine bedeutende Rolle in der Verbreitung des Sicherheitsdiskurses gespielt und damit erheblich zum Erfolg Le Pens beigetragen. Ein Demonstrant fasste das kurz und knapp zusammen und schrieb »TFN« auf sein Schild.

Die am meisten verbreitete Aufforderung aber war, »gegen Le Pen« zu stimmen, »gegen den Faschisten und für den Betrüger«, wie viele sagen. Offene Zustimmung für den Amtsinhaber hörte man nicht, von dessen Parteigängern waren auch nur die wenigsten auf der Straße.

Auf unzähligen Schildern trugen Demonstranten Gummihandschuhe oder Wäscheklammern mit, die man sich vor der Stimmabgabe für Chirac über die Hände stülpen bzw. auf die Nase setzen sollte. Dieses Spiel hatte sich in den vergangenen zwei Wochen so stark verbreitet, dass Ende voriger Woche das Verfassungsgericht es für angebracht hielt, eine Stellungnahme abzugeben. Eine »äußere Manifestation« in Form solcher Utensilien in den Wahlbüros sei geeignet, die Wahlen anfechtbar zu machen.

Die »republikanische Front« aller staatstragenden Parteien gegen die extreme Rechte, von der Anfang der neunziger Jahre viel die Rede war, will im Moment jedoch so gut wie niemand. Damals, im Kontext der Großdemonstration gegen Le Pen nach der antisemitischen Friedhofsschändung von Carpentras im Mai 1990, hatten die regierenden Sozialdemokraten der »republikanischen Frontbildung« mit den Konservativen das Wort geredet. Um ihnen entgegenzukommen, strich die Sozialdemokratie die Forderung nach dem Wahlrecht für Immigranten aus ihrem Parteiprogramm.

Diese Burgfriedenpolitik zwischen Links und Rechts könne, davon sind die meisten linken Demonstranten überzeugt, dazu führen, dass man vom »kleineren Übel« zu immer größeren Übeln komme. Ferner sei dies die beste Garantie dafür, dass Le Pen sich als einzige Alternative zum »Kartell der Etablierten« anbieten könne. Auch die konservative Rechte wünscht derzeit keine »republikanische Front« mit den Linksparteien. Nach der Wiederwahl Chiracs will sie jetzt auch eine parlamentarische Mehrheit gewinnen, um sämtliche Regierungsgeschäfte allein zu übernehmen.

Ohnehin ist der politische Horizont der Mehrzahl der Anti-Le-Pen-Demonstranten begrenzt. Die meisten von ihnen wurden von der unrealistischen Befürchtung angetrieben, Le Pen könne tatsächlich zum Staatspräsidenten gewählt werden. Die Mehrheit der Demonstrierenden überschätzt zweifellos die kurzfristige Gefahr. Denn dass der FN-Vorsitzende ohne politische Bündnispartner außerhalb der extremen Rechten, »allein gegen alle«, eine Mehrheit erhalten könnte, ist ausgeschlossen. Dagegen unterschätzen wahrscheinlich viele von ihnen die längerfristige Gefahr.

Denn wie in Italien, Dänemark oder Österreich werden die Rechtsextremen auch in Frankreich nur in einem Bündnis mit konservativen Kräften an die Regierung gelangen können. Dafür müsste der FN zwar von seiner prinzipiellen Gegnerschaft zur Europäischen Union abrücken, aber schon jetzt bahnen sich Allianzen an.

Die bürgerliche Rechte unter Chirac ist sicherlich auf Dauer kein verlässlicher Schutzwall. So saßen in den vergangenen 14 Tagen bei Chiracs Großveranstaltungen Politiker in der ersten Reihe, die 1998, nach der Wahl der Regionalparlamente, auf örtlicher Ebene Bündnisse mit den Rechtsextremen eingegangen sind, etwa Charles Millon aus Lyon und Jacques Blanc aus Montpellier.

Die Linke geriet durch die Demonstrationen, in denen überwiegend die Stimmabgabe für Chirac gefordert wurde, unter Druck. Die etablierten Linksparteien wie Grüne und KP riefen ohne größeres Zögern zur Wahl des Amtsinhabers auf. Die verschiedenen Flügel der radikalen Linken reagierten auf unterschiedliche Weise.

So rief die trotzkistische Partei Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf) dazu auf, ungültig zu stimmen. Dabei spielte sie allerdings in ihrer politischen Erklärung die Unterschiede zwischen Le Pen und Chirac auf stark ökonomistische Weise herunter - beide seien »Reaktionäre und Arbeiterfeinde«. Die konkurrierende Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) forderte ihre Anhänger dazu auf, »auf der Straße und mit dem Stimmzettel« Le Pen zu bekämpfen, ohne jedoch den Namen Chiracs zu erwähnen.

Noch am Wahlabend rief sie neben den Anarchosyndikalisten der CNT in Paris zu einer Demonstration gegen den Wahlsieger Chirac. Zwischen 6 000 und 8 000 Menschen erinnerten den neuen und alten Präsidenten daran, dass er von seinen gut 82 Prozent keinesfalls auf eine ebenso große Zustimmung schließen könne.