Feindschaft verbindet

Die USA und Russland haben einen gemeinsamen Gegner: die Islamisten. Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Ost-West-Kooperation von der wirtschaftlichen zur militärischen Zusammenarbeit.

Wenn ein US-Präsident in dieser Woche in Berlin auftaucht, dann landet er nicht mehr in einer westlichen Exklave des »Reichs des Bösen«. Die weltpolitische Lage hat sich grundlegend gewandelt, und ebenso das Verhältnis zwischen den ehemaligen Gegenspielern im Kalten Krieg.

Militärische Sieger lösen sich so schwer von ihren vertrauten Feindbildern wie verlassene Liebhaber von ihren Verflossenen. Auch nach der endgültigen Niederwerfung des Gegners bleibt ihr Denken der Frontstellung des letzten großen Konflikts meist lange verpflichtet. Eine neue Bedrohung muss auf den Plan treten, damit wirklich Schluss mit den Reminiszenzen ist. Überraschend schnell hat die US-amerikanische Politik einen solchen Feindwechsel angesichts der Blockkonfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Die nationale Psyche hinkte damals um viele Jahre hinterher. Erst mit dem Vietnamkriegstrauma haben für sie Nazideutschland und Japan - die einschlägigen Hollywood-Produktionen dokumentieren das - ihre Stellung als Hauptfeinde verloren.

Daran gemessen reagierte die US-amerikanische Politik auf das Ende des Kalten Krieges ausgesprochen zögerlich. Im Konstrukt der »Schurkenstaaten« lebte die Vorstellung eines »Reichs des Bösen« fort. Symbolisch zogen die USA im Irak und im zerfallenden Jugoslawien also gegen etwas klapprig und magersüchtig geratene Dritt- und Viertversionen des Sowjetimperiums zu Felde.

Aber auch gegenüber dem ehemaligen Original zeigten sich die US-Administration und ihre Strategen recht konservativ und übervorsichtig. Nicht nur die angepeilte Nato-Ost-Erweiterung hatte eindeutig eine gegen Russland gerichtete Spitze, sondern auch die abgedrehten Phantasien von einer Raketenabwehr, die das US-Territorium unverwundbar machen sollen. Für den Fall, dass Russland der »totalitären Versuchung« noch einmal erliegen könnte, wollten die US-Strategen den einstigen Gegenspieler möglichst präventiv geschwächt und militärisch in jeder Hinsicht chancenlos wissen.

Im Gefolge des 11. September hat sich die offizielle amerikanische Politik verändert. Im Zeichen der Antiterrorkoalition ist aus dem misstrauisch beäugten Russland einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Partner im antiislamistischen Feldzug geworden.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat alles getan, um der US-Führung entgegenzukommen und auf diese Wendung hinzuarbeiten. Schon unmittelbar nach den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center reagierte die russische Führung so, als läge Ground Zero nicht in New York, sondern in St. Petersburg. Sie ließ die Luftabwehr des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzen.

So viele kleine und große Demütigungen der ehemaligen Supermacht in den letzten Jahren von amerikanischer Seite auch zuteil geworden waren - der Höhepunkt war die einseitige Aufkündigung der Salt-Verträge durch die USA gewesen -, die russische Führung übernahm auch in der Folge bedingungslos den Part des good guy. Vor allem machte sie ihren politischen Einfluss geltend, um den US-Militärs den ungehinderten Zugang zum »weichen Unterbauch« der ehemaligen Sowjetunion wie Kasachstan zu öffnen. Ohne diesen Freundschaftsdienst hätten die Aktionen gegen die Taliban kaum so reibungslos ablaufen können.

Die Geschichte neigt zu ironischen Wendungen. Anfang der achtziger Jahre leitete der sowjetische Afghanistan-Krieg einen neuen atomaren Aufrüstungsschub ein. 20 Jahre später führt der von Russland und seinen mittelasiatischen Außenstationen logistisch unterstützte amerikanische Afghanistan-Krieg zum genauen Gegenteil. Im Mai 2002 kam es in Reykjavik zum größten atomaren Abrüstungsvertrag aller Zeiten. Um ihre neue antiislamistische Freundschaft zu besiegeln, beschlossen die USA und Russland nunmehr, die Zahl der strategischen Nuklearsprengköpfe von derzeit jeweils 6 000 auf 2 200 zu reduzieren.

Mit der geplanten großangelegten Reduktion des Atomwaffenarsenals verschwinden zwei Drittel eines kostspieligen Anachronismus. Die atomare Abschreckung und der Overkill haben mit dem Ende der Blockkonfrontation ihren Sinn verloren. In der Auseinandersetzung mit den heutigen und künftigen Gegnern, al-Qaida und Co., nutzen Nuklearsprengköpfe dem Weltpolizisten ungefähr so viel wie dem Nanotechnologen der gute alte Vorschlaghammer.

Während dem Inhalt nach die große Abrüstungsaktion nur die späte partielle Anerkennung gründlich veränderter Realitäten bedeutet, läuft sie ihrer Form nach freilich auf das genaue Gegenteil hinaus. Indem die USA mit dem Hauptnachfolgestaat der Sowjetunion ein Abkommen über gleichgewichtige Abrüstung vereinbaren, akzeptieren sie ihren neuen Juniorpartner noch einmal als das, was Russland längst nicht mehr ist - als eine gleichberechtigte Supermacht. Bereits die Wahl des Verhandlungsortes lässt sich als eine symbolische Anerkennung ungedeckter russischer Großmachtambitionen verstehen. In Islands Hauptstadt unterbreitete 1986 Michail Gorbatschow dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan umfängliche Abrüstungsvorschläge; und so suggeriert die Rückkehr an den alten Schauplatz, man wäre nun am Ende des damals von der sowjetischen Führung eingeschlagenen Weges zur Verständigung der beiden Supermächte angelangt. Ein bisschen Balsam für die strapazierte russische Großmachtseele ist auch dringend notwendig. Putins entschlossener Salto occidentale ist in Russland alles andere als unstrittig. Zu tief sitzt das demütigende Abstiegstrauma, der Durchmarsch von der ersten in die dritte Liga.

Als Gorbatschow die Offensivkapitulation der überrüsteten Sowjetunion einleitete, war an die Öffnung nach Westen die Hoffnung geknüpft, dass dem maroden Reich damit eine umfängliche Friedensdividende zuteil würde. Sie blieb bekanntlich aus. Das Land, das im Zentrum der militärischen Ängste des Westens gestanden hatte, verkam stattdessen zu einer der vielen vom Weltmarkt abgekoppelten und vom kapitalistischen Zentrum vergessenen Weltregionen. Kann heute die neue Waffenbrüderschaft die misslungene ökonomische Anbindung ersetzen und Russland und den Westen zueinander führen?

Partiell erst einmal ja. Zum einen verbindet kaum etwas so stark wie eine gemeinsame Feindschaft, und an der Entschlossenheit Moskaus, gegen die islamische Bedrohung mobilzumachen, dürfte nach den Tschetschenien-Kriegen niemand zweifeln. Zum anderen verlagert sich die Basis der Zusammenarbeit auf ein Gebiet, auf dem Russland als Haupterbe der Sowjetunion dem Westen eine ganze Menge zu bieten hat. Ökonomisch ist Russland, sieht man von einigen Rohstoffen wie Erdgas und den illegalen Märkten ab, auf keinem Gebiet konkurrenzfähig. Die wirtschaftspolitische Kooperation mit dem Westen reduzierte sich entsprechend im letzten Jahrzehnt im Wesentlichen auf einseitige wirtschaftspolitische Unterstützungsleistungen. Das ist nicht unbedingt die ideale Basis für ein dauerhaftes Engagement. Militärisch ist Russland dagegen nach wie vor eine Macht, und seine Führung wird verstehen, das in Euro und Dollar umzumünzen.

Solange die russische West-Politik ihre Hoffnung in der wirtschaftlichen Kooperation fand, war sie notwendigerweise auf Europa ausgerichtet. Mit der vom Militärischen ausgehenden Neufundierung der Ost-West-Kooperation verschieben sich die Gewichte innerhalb der westlichen Staaten. Angesichts der Remilitarisierung der Politik, des Bündnisses der Sicherheitsfundamentalisten Putin und Bush, gerät Europa ins Hintertreffen.

Auf militärischem Gebiet sind Frankreich, Deutschland und Co. außerstande, mit der US-Übermacht auch nur ansatzweise mitzuhalten. Nach der Bildung des Nato-Russland-Rats, der faktischen Beerdigung der Nato, bleiben Paris und Berlin kaum große Wahlmöglichkeiten. Sie können nur den USA die Weltpolitik überlassen oder sich vorsichtig von der sicherheitsfundamentalistischen Linie absetzen. Dass der Geheimdienstmann Putin und der Ölfreak Bush heute die westliche Wertegemeinschaft repräsentieren, ist keineswegs als Hohn auf Freiheit und Demokratie zu betrachten. Die Remilitarisierung der Politik führt Brüder im Geiste zusammen. Die viel beschworene »Wertegemeinschaft« ist echt, nur verrät sie auch schon alles über diese Werte.