Bist du nicht willig ...

Martin Walser verliert seinen wichtigsten Fürsprecher und gewinnt viele neue dazu.

Im Bestseller »Im Krebsgang« von Günter Grass wird ein jüdischer Junge erschossen, doch es stellt sich heraus, dass der Junge gar kein Jude war. Der Wahnsinn, der nach Grass darin besteht, die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges nicht zu bedauern, hatte den Ermordeten dazu verführt, sich als Jude auszugeben. Nach der Tat entschuldigen sich die Eltern des Toten bei den Eltern des Täters dafür, dass sie ihr Kind nicht richtig erzogen haben.

In Martin Walsers neuem, noch nicht erschienenen Roman »Tod eines Kritikers« wird der jüdische Starkritiker André Ehrl-König ermordet, ein rechtschaffener Schriftsteller soll den Mord begangen haben, doch am Ende stellt sich heraus, dass der Starkritiker seinen Tod nur vorgetäuscht hat, um ungestört bei seiner Geliebten verweilen zu können. Man lernt: Mancher tote Jude ist gar nicht tot.

Martin Walser hat offenbar darauf gehofft, dass einige Kritiker und Kritikerinnen darin einen Tabubruch erkennen werden, ja, es ist davon auszugehen, dass er es sogar darauf anlegte, dass sich Marcel Reich-Ranicki, der sich in der Kritikerfigur wiederfinden sollte, über dieses Buch echauffiert.

Walser hat jedoch nicht damit gerechnet, dass der Vorabdruck dieses Buches, das erst im August erscheinen sollte, aber bereits seit drei Wochen der Redaktion der FAZ vorlag, von dem fürs Feuilleton zuständigen Herausgeber, Frank Schirrmacher, in einem offenen Brief abgelehnt werden würde. Wie Schirrmacher in seinem Brief, der am vergangenen Mittwoch in der FAZ erschien, schrieb, war das notwendig: »Ich muss diese Absage öffentlich machen. Sie haben bereits vorauseilend die Vermutung geäußert, eine Absage wäre nur auf den undurchschaubaren Einfluss Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Doch die reale Hauptfigur Ihres Romans weiß nichts von diesen Vorgängen. Es gibt keine Verschwörung.«

Dass sich Schirrmacher, der von seinen Kollegen gerne »Schirmchen« genannt wird, so unumwunden von Walser distanzierte, kam für viele überraschend. Bislang hatte Walser in der FAZ treue Anhänger. Noch Anfang Mai verteidigte der leitende Literaturredakteur der FAZ, Hubert Spiegel, den Autor öffentlich, als er anlässlich seines Treffens mit Bundeskanzler Schröder am 8.Mai erneut in die Kritik geraten war. Und Schirrmacher war nicht eben als Kritiker Walsers aufgefallen.

Als der Schriftsteller 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm, hielt Schirrmacher die Laudatio. Begeistert applaudierte er nach Walsers skandalöser Rede und engagierte sich als Vermittler in der Kontroverse zwischen Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der Walser als »geistigen Brandstifter« bezeichnet hatte.

Entsprechend misstrauisch reagiert das Feuilleton auf Schirrmachers Wendung. Sowohl Dirk Knipphals (taz) als auch Thomas Steinfeld (Süddeutsche Zeitung) unterstellen ihm wörtlich einen »Coup« und suggerieren, er habe den Skandal allein der Publicity wegen gesucht und mache sich dafür das Klima, das die Kritik an den antisemitischen Äußerungen von Jürgen Möllemann geschaffen habe, zunutze. Irmtraud Gutschke schreibt im Neuen Deutschland, dass es sich nur um ein »Spektakel« handle.

Gustav Seibt findet die Aufregung bigott, denn Reich-Ranicki sei »in den letzten vier Jahrzehnten ungezählte Male parodiert und karikiert worden«, von Peter Handke sogar als »Feind«, der »in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassemerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war«. Wenn es alle sagen, so what?

Sicher sind sich die meisten Kritiker jedenfalls, dass »Tod eines Kritikers« »kein antisemitisches Buch« (Steinfeld) sei. Es sei aber, das räumen sie ein, ein schlechtes Buch. Es gibt jedoch auch Kritiker, die nicht abwiegeln, sondern darauf hinweisen, dass Schirrmacher keineswegs irrt, wenn er feststellt, dass Walser »mit dem Repertoire antisemitischer Klischees« spielt. So etwa Hellmuth Karasek im Tagesspiegel, Jan Philipp Reemtsma und Marius Meller in der Frankfurter Rundschau und Elke Schmitter im Spiegel. Auch Hubert Spiegel von der FAZ, in dem Walser bisher noch einen Verbündeten wähnte.

Obschon Schirrmacher in seinem Brief betonte, dass seine Weigerung, »Tod eines Kritikers« vorabzudrucken, nicht von Marcel Reich-Ranicki beeinflusst worden sei, ergeht sich das deutsche Feuilleton in Mutmaßungen darüber, welchen Anteil der im Roman Verunglimpfte selbst an dem Ablehnungsbescheid für Walser hat bzw. welche Rücksicht auf seine Person Reich-Ranicki gefordert haben könnte. Der Tenor lautet: Die FAZ könne eben nicht zulassen, dass Walser einfach einen ihrer prominentesten Autoren beschimpfe, schon gar nicht wenn dieser Jude sei. Damit wird allerdings eine Argumentation deutlich, wie sie Schirrmacher bei Walser zu Recht beanstandet.

Schirrmacher erkannte in Walsers Satz, »umgebracht zu werden passt doch nicht zu André Ehrl-König«, die »hier verbrämt wiederkehrende These, der ewige Jude sei unverletzlich«. Durch seine Unantastbarkeit, die Reich-Ranicki als Jude habe, würde bei der FAZ jene »politische Korrektheit« erzwungen, deren Verletzung sie sonst an Walser bewundere, heißt das Konstrukt vieler Feuilletonisten. Daher sei Walser das eigentliche »Opfer«, behauptet Joachim Güntner in der NZZ. »Was Martin Walser in diesen Tagen widerfährt, ist der Versuch eines politischen Rufmordes«, schreibt Thomas Steinfeld. Auf das lapidare »darunter« in Walsers Satz, wonach »André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust«, welches Schirrmacher so »besonders hervorhebenswert« findet, da das Wort ignoriere, dass der Großteil der europäischen Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen sei (und Reich-Ranicki einer der wenigen Überlebenden), auf diese Stelle des offenen Briefes geht keiner der Verteidiger Walsers ein.

Sie erliegen Walsers Strategie, sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Der Autor entdeckt im unleidigen Kritiker den eigentlichen Mörder. »Die Autoren sind die Opfer, und er ist der Täter. Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude«, erklärte Walser im Jahr 1998. Es war Reich-Ranicki selbst, der ihn damals verteidigte; im Zorn, in der Hitze des Gefechts sei Walser »eine schreckliche und letztlich törichte Formulierung entschlüpft«.

Nun jedoch fordert auch Reich-Ranicki, dass der »Verlag Benjamins, Adornos, Blochs, Celans« das Buch nicht veröffentlicht. Der Suhrkamp Verlag, bei dem erst im vergangenen Monat Reich-Ranicki seinen »Kanon der Deutschen Literatur« vorstellte, denkt jedoch nicht daran, das Buch zurückzuziehen. Im Gegenteil, der Verlagsleiter Günter Berg bedauerte die Veröffentlichung des offenen Briefes zum jetzigen Zeitpunkt. Nur unter großen Schwierigkeiten sei der Erscheinungstermin des Buches in den Juni vorzuverlegen. Bernd Lunkewitz, der Inhaber des Aufbau-Verlages, prognostiziert bereits, dass der von Schirrmacher ausgelöste Skandal die Auflage um das Zwanzigfache steigern werde.

Dafür, dass Lunkewitz mit seiner Vermutung richtig liegen könnte, sprechen zahlreiche Reaktionen von Leserinnen und Lesern, die sich in ihrer Liebe zum Nationaldichter von solchen Diskussionen nicht irritieren lassen möchten. Dass der ehemalige Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, kürzlich in der Zeit dargelegt hat, wie Walser »einen Assoziationshorizont« geöffnet hat, »hinter dem der klassische Antisemitismus lauerte: 'Die Juden sind es, wer denn sonst?', die uns mit ihrer Erinnerung bedrohen und an gelebter Normalität hinderten«; dass ein Herausgeber der mächtigsten Tageszeitung erklärt hat, er sei »so angewidert von diesem Buch«, dass er »nach der Lektüre nicht einmal mit dem Autor telefonieren konnte«, dürfte das Lesevolk nicht abschrecken.